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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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gesehen.«
    »Du hältst jetzt den Mund, Ed Lewis!«, sagte sie. Aber dann stand sie vom Bett auf, ging ans Fenster und strich mit der Hand über das Fliegengitter, und ich spürte, dass sie die Wahrheit in meinen Worten erkannte. Das Problem war nur, dass sie die Wahrheit schon immer gekannt hatte.
    Nach einer kleinen Weile drehte sie sich zu mir um und sagte: »Ich verstehe das nicht. Ich verstehe nicht, warum du mir so weh tun willst.«
    Als ich nichts erwiderte, zwängte sie sich an mir vorbei und lief aus dem Zimmer. Ich sah auf die Pfeilspitze in meiner Hand. Ich wollte sie in den Karton werfen, aber bei dem Gedanken begannen meine Hände zu zittern, und ich steckte sie in die Tasche.
    Als ich hinausging, stand meine Mutter vor der Tür. Mir war klar, dass sie gelauscht hatte. Ich sah es sofort.
    Sie lächelte mich an. »Hallo, Ed, mein Lieber.«
    »Geh einen Cocktail trinken, Mutter!«, sagte ich und ließ sie mit offenem Mund stehen.
     
    »Schauen Sie mal, wer da ist!«, ruft die Schwester. »Ich hab’s Ihnen ja gesagt.«
    Dann sehe ich das Gesicht meiner Mutter. Ihre Augen blicken sanft. Sie sieht heute älter aus, älter als noch vor einer Woche.
    »Hallo, mein Lieber.« Sie streicht mir das Haar aus der Stirn.
    Ich mag es nicht, wenn sie mich anfasst.
    »Wie geht es ihm?«, fragt meine Mutter die Krankenschwester.
    »Ganz gut. In ein paar Minuten können Sie mit dem Arzt sprechen.«
    Dann sind wir allein. Meine Mutter schaltet das Radio aus und zieht sich einen Stuhl ans Bett.
    »Na, dann wollen wir mal. Es war viel los in der Woche. Ich habe Carl beim Einrichten seines Büros in Oak Bluffs geholfen. Davon habe ich dir doch erzählt, oder? Von Carl habe ich dir ganz bestimmt erzählt. Also, er hat ein Haus in Oak Bluffs gefunden, in dem er ein Büro einrichten kann, eine Art Außenstelle für seine Kirche. Carl sagt, als Teddy Kennedy drüben in Chappy dieses arme Mädchen umgebracht hat, wurde der Kirche klar, wie viele Menschen hier auf der Insel Hilfe brauchen. Und er wurde dazu bestimmt, das Ganze aufzubauen. Ich habe ihn in der Eisenwarenhandlung kennengelernt, genau wie deinen Vater. Ich wollte eine Glühbirne kaufen, und er brauchte Putzmittel. Aber das habe ich dir ja schon erzählt.«
    Sie seufzt, steht auf und tritt ans Fenster.
    »Er ist so engagiert«, fährt sie fort, »und bringt mir so viel Interessantes über mich selbst bei, über Selbstverwirklichung und dass ganz vieles aus meiner Vergangenheit und sogar aus meinen früheren Leben mich daran hindert, die nächsthöhere Ebene zu erreichen. Ich fange schon bald mit dem Auditing an. Ach, er ist so intelligent, Ed!«
    Über diesen Carl musste ich mir schon eine ganze Menge anhören, seit meine Mutter ihn im August kennenlernte. Tante Nick bezeichnete meinen Vater immer als Scharlatan, wenn sie glaubte, wir würden es nicht hören. Was sie wohl über den neuen Verehrer meiner Mutter sagen würde?
    Kennedys Chappaquiddick-Unfall hat offenbar alle möglichen komischen Vögel auf die Insel gelockt. Reporter, Sensationslüsterne, religiöse Fanatiker. Ich hörte mir die Rede von Teddy Kennedy im Radio an, in der er sagte, nachdem er das Mädchen im Auto zurückgelassen hatte, wo es dann ertrank, hätte er sich gefragt, ob nicht ein fürchterlicher Fluch über den Kennedys hänge. Das hat mich daran erinnert, dass Daisy damals, nachdem wir Elena Nunes gefunden hatten, meinte, wir seien verflucht. Und wirklich komisch ist, dass sich Teddy Kennedy, wie ich von meiner Mutter weiß, sogar noch im Hideaway verkrochen hat, bis ihm klar wurde, dass ihm nichts übrigblieb, als zur Polizei zu gehen. Was wohl Sheriff Mello dazu gesagt hat?
    Meine Mutter redet immer noch von Carl, da kommt der Arzt herein.
    »Guten Tag, Mrs. Lewis.«
    »Hallo, Dr. Christiansen.« Die Stimme meiner Mutter klingt gepresst. Sie mag Ärzte nicht.
    »Hallo, Ed.« Der Arzt tritt an mein Bett. »Wie geht es uns denn heute?«
    Ich sehe ihn an. Er dreht sich zu meiner Mutter um. »Tut mir leid, dass wir letzte Woche nicht miteinander reden konnten, aber ich war auf einer Tagung.«
    »Dr. Christiansen, ich wüsste gern, warum er immer noch nicht sprechen kann. Sie hatten doch gesagt, wenn er erst mal hier ist, dauert es nicht mehr lange.«
    »Ja, das ist immer noch ein bisschen rätselhaft. Wie ich Ihnen schon bei unserem ersten Gespräch sagte, dürften die Verletzungen am ersten und zweiten Brustwirbel seine Stimmbänder nicht für immer beeinträchtigen. Natürlich kann das

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