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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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mich auf den Mund. Es fühlt sich so leicht an wie ein Schmetterlingsflügel.
    »Tut mir leid, dass ich dich nicht besucht habe, aber ich war sehr traurig. Jetzt geht es mir besser.« Ihr blondes Haar ist kürzer, es sieht aus wie ein Heiligenschein. Sie blickt sich um. »Es ist stickig hier drin. Warum macht denn keiner das Fenster auf?«
    Sie setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett.
    »Also, Ed Lewis, wie ich höre, redest du nicht mehr mit uns. Was ist los – hat es dir die Sprache verschlagen?«
    Ich lächle.
    »Das reicht nicht«, sagt Daisy. »Ich bin nicht mehr so bescheiden wie früher.«
    Sie öffnet eine Leinentasche, und ich denke an die Geschichte mit den Tennisbällen. »Meine ganze elende Geschichte hat dir ja bestimmt schon deine Mutter erzählt, und da du nicht zu reden gedenkst, habe ich dir ein paar Gedichte mitgebracht. Ich kann dir welche vorlesen, wenn du willst. Oder langweilt dich so was?«
    Ich sehe sie an.
    »Nein? Gut.« Sie zieht das Buch heraus. In diesem Moment kommt die Schwester herein.
    »Entschuldigen Sie, Miss Derringer, aber donnerstags waschen wir Ed normalerweise die Haare. Immer gleich, wenn seine Mutter gegangen ist.«
    »Ach so«, sagt Daisy. »Na ja, vielleicht kann ich dabei helfen.«
    »Das hätte er bestimmt sehr gern. Nicht wahr, Ed?«
    »Das glaube ich auch.« Daisy zwinkert mir zu.
    Es ist ein Riesentheater, mich aus dem Bett zu hieven und in einen Rollstuhl zu setzen. Es ärgert mich ein bisschen, weil ich dabei Zeit verliere, die ich mit Daisy verbringen könnte. Dann schiebt mich die Schwester ins Bad, und Daisy folgt uns. Die Schwester steckt mir ein Haarwaschtablett zwischen Hals und Schultern, damit das Wasser ablaufen kann.
    »Ich mache erst mal die Haare nass, dann können wir shampoonieren«, sagt die Schwester.
    Ich weiß nicht, warum mir die Handgelenke der Schwester noch nie aufgefallen sind. Sie sind so durchsichtig, wirken fast blau. Mir wird bewusst, dass ich nicht einmal weiß, wie sie heißt. Ich nehme mir vor, ihr in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
    Das warme Wasser rinnt über meine Kopfhaut. Ich sehe Daisy an. Sie lächelt. Sie streckt den Arm aus, und die Schwester spritzt ihr ein bisschen von dem rosaroten Shampoo in die Hand. Daisy beginnt meine Kopfhaut zu massieren. Ich spüre ihre Hände, die sich warm anfühlen, ihre Fingerspitzen, die meine Kopfhaut bis zu den Schultern hinunter zum Prickeln bringen. Ein bisschen Schaum gleitet mir über die Stirn und ins Auge. Es brennt, und mein rechter Zeigefinger zuckt. Der Arzt hat recht, ich muss mir Mühe geben.
    »Entschuldige«, sagt Daisy lachend. »Ich mache das nicht besonders gut, was? Vielleicht sollten Sie das übernehmen, und ich lese ihm dabei vor.«
    Sie verlässt das Bad und kommt mit dem Buch zurück. »Wallace Stevens«, sagt sie und zeigt mir den Umschlag. »Also, dann schauen wir mal.« Sie blättert herum, lächelt dann und wann. »Ah, das da mag ich besonders.« Sie lehnt sich an die Wand und beginnt vorzulesen: »In den Häusern spuken/Weiße Nachtgewänder.«
    Ich lausche dem Klang ihrer Stimme und denke, dass ich noch nie etwas so Schönes gehört habe. So klar und wahr und beständig. Ich würde ihr so gern die Worte nachsprechen. Ich versuche, Luft durch die Kehle zu drücken. Nichts geschieht.
    »Keine grünen/Oder violetten mit grünen Ringeln/Oder grüne mit gelben Ringeln./Keine ungewöhnlichen.«
    Ich versuche es noch einmal, und diesmal schaffe ich ein leises Gluckern, das zwar niemand hören kann, weil das Wasser in den Abfluss läuft, aber ich höre es.
    »Die Menschen träumen nicht/Von Pavianen und Strandschnecken.«
    Ich sehe Daisy an. Ich höre sie.
    »Nur da und dort ein alter Seemann/Betrunken und in seinen Stiefeln eingeschlafen/Fängt Tiger/In rotem Wetter.«
    Sie schaut zu mir her. Ihre Augen glänzen ein bisschen, aber das kann der Wasserdampf sein. Ich denke an die Liebe und an alle Nachtgewänder, die nicht weiß sind. Ich denke an Tante Nick, an Frank Wilcox und sogar an Onkel Hughes. Ich denke an Daisy und an ihren Gedichtband. Ich denke an Tiger in rotem Wetter. Es gefällt mir.

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    Danksagung
    E inige Menschen haben diesen Roman mit mir zusammen geschaffen – manche, ohne es zu wissen. Meinen Dank schulde ich Wallace Stevens, dessen Gedichte mich dazu bewegt haben, genau dieses Buch zu schreiben. Und meinem Großvater, dessen wunderbare Lebenserinnerungen mir als Ausgangspunkt dienten.
    Meinen Lektoren: Kate Harvey bei Picador, der meine

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