Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
Vom Netzwerk:
mit viel Milch für sie. Ihre Mutter trank ihn immer ohne alles, bitter. Ja, junge Mädchen müssen Kaffeetrinken lernen, aber zittrige Nerven tun nicht gut. »Nur einen Tropfen«, sagte sie zu dem Mann mit der weißen Kappe hinter dem kahlen Stahltresen. Er warf ihrer Mutter einen scheelen Blick zu, tat aber, wie alle Männer, was man von ihm verlangte.
    Daisy fragte sich oft, welche unsichtbare Macht ihre Mutter besaß, um die Männer dazu zu bringen. Auch Daisy tat, was ihre Mutter befahl. Sie tat es, weil ihre Mutter ein bisschen verrückt war und sie sich nur dann mit ihr anlegte, wenn sie etwas wirklich haben wollte. Aber diese Männer bekamen ja eigentlich nie etwas. Außerdem benahmen sie sich in ihrer Nähe immer ein bisschen trottelig – nicht ängstlich, sondern so, als wäre das, was ihre Mutter forderte, genau das, was sie schon ihr ganzes Leben lang hatten machen wollen.
    Einmal fragte Daisy ihre Mutter danach. Das heißt, sie fragte ihre Mutter, ob sie hübsch sei, weil sie die vage Vermutung hegte, dass diese Macht, die ihre Mutter besaß, etwas mit ihrem Aussehen zu tun hatte.
    »Hübschsein ist gar nicht so wichtig«, erklärte ihre Mutter. »Männer mögen Frauen mit dem gewissen Etwas.«
    Sie lächelte Daisy dabei an. Es war ein Lächeln, das Daisy miteinbezog, so dass sie Ruhe gab. Aber insgeheim überlegte sie, wer sonst noch das gewisse Etwas besitzen könnte und woher es kam. Sie dachte an die Filmstars, die sie mochte, doch ihre Mutter sah weder Audrey Hepburn noch Natalie Wood ähnlich, sie war nicht mal wirklich hübsch. Das also war es wohl nicht, das gewisse Etwas. Aber Daisy sah auch nicht aus wie ihre Mutter. Sie war blond und hatte blaue Augen wie ihr Vater.
    An ihrem zwölften Geburtstag war ihre Mutter mit ihr ins Nickelodeon am Harvard Square gegangen, wo »Vom Winde verweht« lief. Als die wunderschöne Vivien Leigh Mammy mit funkelnden grünen Augen mitteilte, sie werde ihr Frühstück nicht essen, hatte Daisys Mutter sich vorgebeugt.
    »Sie ist in diesem Film verrückt geworden«, flüsterte sie Daisy ins Ohr. »Man sieht es an den Augen. Man sieht, wie sie förmlich auseinanderbricht.«
    Daisy glaubte es auch zu sehen. Aber hinterher dachte sie, dass ihre Mutter genau die gleichen Augen hatte, und grübelte darüber, ob ihre Mutter wirklich und wahrhaftig verrückt werden würde wie Vivien Leigh. Vielleicht war
das
ja das gewisse Etwas. Aber das hätte sie nicht so gut gefunden.
     
    Am Spätnachmittag erreichten sie Tiger House. Im Auto war es heiß und stickig, und vom Kaffee war Daisy leicht übel geworden. Das Haus mit der vom unablässigen Angriff der Meeresstürme silbrig verfärbten Zedernholzverschalung befand sich auf einem Grundstück, das sich zwischen zwei Straßen hinzog, was Daisy immer wieder erstaunlich fand. Als Erstes kam eine hintere Zufahrt an der North Summer Street, die sich an vereinzelten anderen Cottages vorbeischlängelte und an der hinter dem Haus gelegenen Rasenfläche endete.
    Eine zweistöckige, säulenumstandene Veranda mit Blick auf die North Water Street beherrschte die Vorderseite. Jenseits dieser Straße führte ein abschüssiger Rasen zu einem kleinen Bootshaus und einem wackligen Steg.
    Daisys Urgroßmutter hatte sich einen »Bungalow« gewünscht, ein einfaches, mit Holzbrettern verkleidetes Haus, wie es sich die Leute vom Festland für den Sommer bauten. Doch die Notwendigkeit sowohl einer Sommer- als auch einer Winterküche, später, der Helligkeit wegen, eines Wintergartens sowie mehrerer zusätzlicher Schlafzimmer für Wochenendpartys hatte dazu geführt, dass der Bau entgegen der ursprünglichen Planung immer weiter nach hinten wuchs, bis das, was einst als kastenförmiges Cottage gedacht gewesen war, fast den gesamten hinteren Teil des Grundstücks einnahm. Den Namen hatte ihm Daisys Urgroßvater gegeben, ein Bewunderer des ersten Roosevelt und begeisterter Großwildjäger mit einer besonderen Leidenschaft für Tiger. So nahm denn auch ein großer Tigerfellteppich mit Kopf und allem, was dazugehörte, den Ehrenplatz im grünen Salon ein.
    Daisys Mutter fuhr in die Auffahrt, stellte den Motor ab, stieß einen tiefen Seufzer aus und richtete den Blick über einen Strauch fahlroter Teerosen hinweg auf Tante Helenas Haus nebenan. Weil Tante Helena und Onkel Avery es in diesem Sommer vermieteten, würden alle im Haupthaus wohnen.
    »Sie hätte wenigstens Leute nehmen können, die keine Wäscheleine durch den Garten spannen«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher