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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Daisys Mutter mit der Stimme, mit der sie immer Selbstgespräche führte. Rhetorisch, nannte sie es. Und das hieß: keinerlei Kommentar erwünscht.
    Daisy hatte sich vorgestellt, dass es lustig werden könnte, wenn alle zusammen waren: ihre Mutter, ihre Tante und Ed. Und ihr Vater natürlich, wenn er mal aus der Stadt kam. Aber ihre Mutter sah das anders. Onkel Avery brauchte Geld für seine Sammlung – es hatte irgendetwas mit Filmen zu tun, was genau, wusste Daisy nicht. In ihrer Phantasie bestand die Sammlung aus Filmrollen, die in einem riesigen Raum unter Glas lagen. Die Sache hatte ihre Mutter sehr wütend gemacht, und ihr Vater hatte sie zu beruhigen versucht. Aber ihre Mutter hatte »diese verdammte Helena mit ihrem verdammten Mann« gesagt und erst dann bemerkt, dass Daisy in der Tür stand. Und hatte sie mit ihren grünen Augen angesehen, nicht funkelnd wie Vivien Leigh, sondern mit matten, kalten Augen, die Daisy an Ackerbohnen erinnerten. Dann hatte sie die Tür zugeknallt, und nichts mehr war zu hören gewesen.
    Ihre Mutter hob Daisys kleinen karierten Koffer von der Rückbank und gab ihn ihr.
    »Vergiss nicht, die Kleider rauszunehmen, damit sie nicht zerknittern«, sagte sie, aber Daisy war schon losgerannt, zerrte den Koffer durch die Hintertür und ließ das Fliegengitter zufallen.
    Sie wollte so schnell wie möglich nach oben und nachsehen, ob alles, was sie im vergangenen Sommer versteckt hatte, noch da war. Ihre Comic-Hefte, die rosarote gestreifte Muschel vom Strand und das spezielle Shampoo, das sie sich von ihrem Vater erbettelt hatte. So zauberhaft! Für duftiges, glänzendes Haar.
    Auf ihrem Weg durch den langen Korridor, der vom hinteren zum vorderen Teil des Hauses führte, verfing sich ihr Koffer alle paar Schritte in dem abgenutzten Läufer. Kurz vor der Fronttür wurde das Haus breiter, denn dort befand sich an jeder Seite ein geräumiger Salon, der eine grün, der andere blau, dessen große, mit Fliegengitter versehene Fenster auf die Veranda und den dahinterliegenden Hafen blickten.
    Als sie auf die breite Treppe zulief, sah sie im Vorübergehen kurz Tante Helena im blauen Salon auf einem mit Chintz bezogenen Sessel sitzen. Ihr blasses Gesicht hatte einen weichen, verträumten Ausdruck. Daisy hatte fast vergessen, dass ihre Tante und ihr Cousin schon da waren. Sie fragte sich, wo Ed wohl herumschlich.
    »Hi, Tante Helena«, rief sie über die Schulter hinweg, während sie die Stufen hinaufstürmte.
    »Hallo, meine Liebe«, rief die Tante ihr nach. »Ed? Daisy und Tante Nick sind da, Schatz!«
    Keuchend betrat Daisy ihr geliebtes Zimmer mit den zwei Messingbetten und der rosaroten Tapete mit dem Rosettenmuster, die sie sich selbst hatte aussuchen dürfen. Sie warf den Koffer auf das zusätzliche Bett, lief zum Fenster, stemmte den Schieberahmen nach oben, drückte die Nase ans Fliegengitter und atmete die Luft ein, die stark nach Meer roch, aber auch süß nach den Blüten des Seidenbaums dicht vor dem Fenster. Sie befühlte die hauchzarten Rüschengardinen. Dann ging sie zu ihrem Versteck.
    Um Schnüffler wie ihre Mutter oder ihren Cousin von ihrem Reich fernzuhalten, bewahrte sie die Schätze in der untersten Schublade eines alten Sekretärs auf, der, für den Alltagsgebrauch als zu unhandlich erachtet, in den hintersten Teil ihres begehbaren Kleiderschranks verbannt worden war. Sie schob die Tarnung beiseite – eine alte Stranddecke und das riesige Plüscheinhorn, das ihr Vater ihr drei Sommer zuvor auf dem Jahrmarkt in West Tisbury gekauft hatte. In Einhörner war sie damals ganz vernarrt gewesen, hatte es aber nicht geschafft, die vier Flaschen zu treffen und es zu gewinnen. Sie hatte es immer wieder versucht und ihr gesamtes Taschengeld ausgegeben, und als nichts mehr da war, hatte ihr Vater sich ihrer erbarmt und es dem Mann für zwei Dollar abgekauft. Es hatte jede Nacht bei ihr im Bett gelegen; sie hatte das goldene Horn bewundert und die wallende Mähne gestreichelt. Doch im Jahr darauf hatte sie es in den Sekretär gestopft und sich plötzlich für die billigen, dümmlich in die Luft starrenden Plastikaugen geschämt.
    Darunter lagen die zehn Archie-Hefte, der Nagellack Silver City Pink, den sie im Billigkaufhaus in der Main Street erstanden und unter der Bluse ins Haus geschmuggelt hatte, sechs Fünf-Cent-Münzen – der Lohn für Gehsteigfegen im vergangenen Sommer –, ein Paar bereits angelaufene, aus dem Schmuckkästchen ihrer Mutter stibitzte Ohrclips aus Kupfer

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