Zeit der Raubtiere
und das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Nach dieser Bestandsaufnahme legte sie Decke und Einhorn wieder an ihren Platz und schloss die Schublade. Als sie aus dem begehbaren Kleiderschrank trat, stand Ed da und glotzte.
»Hallo«, sagte er.
»Du, Ed«, erwiderte Daisy ein bisschen hastig, »ich habe mir nur mein Einhorn angesehen.«
»Schon gut, ich weiß, dass das dein Versteck ist.« Ed schaute sie mit diesem komischen teilnahmslosen Blick an, der typisch für ihn war und Daisy immer das Gefühl gab, er würde durch sie hindurchsehen.
»Was hast du in meinem Zimmer zu suchen? Bist wohl wieder am Schnüffeln, was?« Sie schob eine Hüfte vor und versuchte die Augenbrauen hochzuziehen wie ihre Mutter.
»Ich schnüffle nicht«, entgegnete Ed. »Ich wollte hallo sagen.«
»Wenn du nicht geschnüffelt hast, woher kennst du dann mein Versteck?«
»Ich kenne alles in diesem Haus«, erklärte Ed und pulte nicht vorhandenen Dreck unter seinem Daumennagel hervor.
»Was sind wir heute wieder lässig!« Daisy stampfte mit dem Fuß auf den Flechtteppich. »Kein bisschen kennst du dich hier aus, Ed Lewis. Du weißt bestimmt nicht mal, wo meine Geldkassette ist.« Sie bereute es sofort, die Kassette erwähnt zu haben.
»Unter der Falltür vor dem Weinkeller«, sagte Ed, ohne den Blick von seinem Daumennagel zu heben. »Du bist hier nämlich nicht die Einzige mit einem Versteck.«
»Was, bitte, soll das heißen?«
Ed zog eine Braue hoch.
Daisy war wütend. »Du Blödmann! Hör auf, in meinen Sachen rumzuschnüffeln, Ed Lewis, ich meine es ernst! Sonst wirst du nicht mein Doppelpartner im Rundenturnier!«
Es war eine schwere Drohung, die den beabsichtigten Zweck erfüllte und Daisys Cousin zum Schweigen brachte. Aber Daisy merkte, dass sie ihm nicht lange böse sein konnte. Insgeheim war sie froh, ihn zu sehen, auch wenn er sie ärgerte.
Sie verlagerte ihr Gewicht und sagte: »Ich fahr runter zum Achterdeck und schau mal, wer da ist. Kommst du mit? Ich will mein Rad ausprobieren.«
»Ich gehe lieber zu Fuß«, erklärte Ed. »Vom Rad aus kann man sich nichts anschauen.«
»Wir sind keine zehn mehr. Wir können nicht einfach überallhin zu Fuß gehen.«
Ed schwieg.
»Na gut … meinetwegen.« Daisy fielen keine Drohungen mehr ein. »Aber geh jetzt, ich ziehe mich um.«
Als sie Ed die Treppe hinunterlaufen hörte, zog Daisy das Sommerkleid und den Pulli aus, die ihre Mutter ihr am Morgen herausgelegt hatte, und zog die grünkarierten Shorts und eine weiße Baumwollbluse an. Sie schlüpfte in ihre Segelschuhe und musterte sich im Spiegel. Ihre Mutter zwang sie, einen Pagenkopf zu tragen – lange Haare sind ordinär –, aber Daisy wollte sich die Haare unbedingt wachsen lassen, um einen Pferdeschwanz zu haben, den sie um die Schultern schwingen konnte.
Ihre Beine waren noch ein bisschen zu bleich für die Shorts, und ihr blondes Haar kräuselte sich rings ums Gesicht, weil sie schwitzte.
Nur Pferde schwitzen. Männer transpirieren, und Frauen glänzen.
Ihre Mutter hatte etwas gegen die Shorts, aber Daisy fand, dass sie darin älter wirkte. Sie sah ja aus wie ein Baby – wie das Baby in der Windelreklame mit seinen blonden Löckchen und den Kulleraugen –, da musste sie jede Hilfe in Anspruch nehmen, die sie kriegen konnte.
»Donnerlittchen«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Dieses Wort erinnerte sie an Scarlett O’Hara, und es war wie für sie gemacht. Sie fühlte sich erwachsen, wenn sie es gebrauchte. Ein unverwechselbarer Ausdruck, der ihr die Ausstrahlung einer unduldsamen Südstaatenschönheit verlieh.
Auf dem Weg nach unten hörte Daisy, dass ihre Mutter den Plattenspieler angeschaltet und Jazz aufgelegt hatte; nur ihre Mutter und sonst niemand durfte ihn anfassen. Daisy besaß eine Platte von Chuck Berry, die sie im Billigkaufhaus erstanden hatte, aber die lag ungeöffnet in ihrem Zimmer.
Ed stand im blauen Salon und sah auf die Veranda hinaus, wo ihre Mutter und Tante Helena saßen. Er drehte sich um und hob den Zeigefinger an die Lippen.
»Helena, ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum du dir das von ihm gefallen lässt«, sagte ihre Mutter gerade und strich sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht.
»Avery hat so schwer gearbeitet«, entgegnete Tante Helena fast flüsternd. »Es macht mir nichts aus. Ich …« Sie unterbrach sich und sagte dann: »Es läuft nicht besonders gut in letzter Zeit. Vor unserer Abreise kam es zu einem Zwischenfall mit Bill Fox – dem Produzenten,
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