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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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nicht von Charlie sein konnte. Zunächst fielen ihr die Initialen am oberen Rand auf, ELB . Stirnrunzelnd ließ sie den Blick zu der nach rechts geneigten eleganten Handschrift wandern.
     
    Ich weiß, ich habe gesagt, ich würde nicht schreiben.
    Die Welt steht nicht mehr in Flammen, aber ich liebe Dich noch immer.
    Ich will, dass Du das weißt, wo immer Du auch bist.
    Außerdem verdient es jeder Mensch, glücklich zu sein.
     
    Nick griff in den Umschlag und zog einen silbernen Schlüssel hervor, an dem ein Messingschild mit der Aufschrift »Claridge’s Room 201« hing.
    Der Schlüssel war schwer und das Schild so glatt. Nick strich mit dem Daumen über das glänzende Messing und hinterließ einen fettigen Abdruck. Sie betrachtete ihren Daumen, und plötzlich erschien er ihr dick und plump und schmutzig. Ungepflegte Hände, hatte ihre Mutter immer gesagt, während sie abends Butter in ihre Finger massierte, muss eine Dame stets um jeden Preis vermeiden.
    Nick nahm die Karte und las sie noch einmal, versuchte Zeile für Zeile zu entschlüsseln, einzuschätzen, zu entscheiden, welches Wort bedeutsam und welches nur verwendet worden war, um die gewichtigen Wörter miteinander zu verbinden.
    Sie fand nur die wenigsten unwichtig. »das« und »zu sein« stellten Lückenfüller dar, aber nicht einmal sie waren verzichtbar. Außerdem verdient es jeder Mensch, glücklich zu sein.
    »Oh, Gott«, sagte sie, als sie das ganze Gewicht dieser Worte, der Briefkarte, des schweren Schlüssels zu spüren begann. »Oh, Gott.«
    Sie legte den Kopf auf die Küchentheke und versuchte zu weinen, aber es kam nichts. Sie sah zu, wie ihr Atem immer wieder das Resopal beschlug.
    Nach einiger Zeit richtete sie sich auf, straffte den Rücken und strich noch einmal über »den Brief«. Sie ließ den Schlüssel auf der Theke liegen, ging mit der festen, glatten Briefkarte zur Bar im Gartenzimmer, mischte einen Martini und trank ihn ex.
    Dann machte sie sich noch einen. Nachdem sie den zweiten getrunken hatte, sah sie sich die Karte noch einmal an. Die Welt steht nicht mehr in Flammen, aber ich liebe Dich noch immer. Sie mischte einen dritten und ließ diesmal drei Oliven hineinplumpsen. Dann ging sie, das Glas in der einen, die Karte in der anderen Hand, ins Wohnzimmer, wo das Feuer, das sie am frühen Nachmittag gemacht hatte, nur mehr knisternd glomm.
    Sie ließ sich auf der bestickten Sitzbank vor dem Kamin nieder und warf einen letzten Blick auf die Karte.
    Ich weiß, ich habe gesagt, ich würde nicht schreiben.
    Dann warf sie »den Brief« auf die zusammenfallenden Scheite. Er rollte sich ein und wurde nach und nach zu Asche.
    Sie blieb sitzen, drehte den Stiel des Glases zwischen den Fingern und fühlte sich wie hypnotisiert von den Flammen. Schließlich stand sie auf und ging langsam in die Bibliothek. Sie holte ihr Adressbuch hervor und meldete ein Ferngespräch mit Helena an.
    Während sie darauf wartete, durchgestellt zu werden, nahm sie eine Zigarette aus der Packung auf dem Telefontischchen. Sie zündete sie an und blickte aus dem kleinen Erkerfenster, dessentwegen die Bibliothek ihr Lieblingsraum im Haus war.
    Die tieferen Äste der Esche draußen vor dem warmen Zimmer schlugen an die Scheibe.
    Die Dame vom Amt bat sie, in der Leitung zu bleiben.
    Nick trank das Glas leer.
    »Schmorbraten«, sagte sie lallend.
    Als Helenas Stimme ertönte, war Nick wie betäubt.
    »Nick?« Helenas Stimme klang krächzend.
    »Oh!« Es überraschte Nick plötzlich, mit ihrer Cousine zu reden.
    »Bist du’s?«
    »Ja, ja, ich bin’s.« Das Sprechen fiel Nick schwer. Aber ich liebe Dich noch immer.
    »Wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung?«
    »Nein, gar nichts ist in Ordnung«, sagte Nick. »Mir … mir fehlt plötzlich alles so sehr. Weißt du noch, unser kleines Haus in der Elm Street? Und wie heiß es da war im ersten Sommer?«
    »Ja.« Helena klang zögerlich. »Was ist denn los, Nick? Ist mit Hughes alles in Ordnung?«
    »Hughes ist Hughes«, sagte Nick. »Nein, ich habe nur ein bisschen um unser früheres Leben getrauert. Ich würde alles dafür geben, wenn ich wieder in diesem Haus sein dürfte und unsere Strümpfe in diesem grässlichen kleinen Bad auswaschen könnte. Erinnerst du dich, wie sich mein letztes Paar an dem Bügel über der Wanne einfach so aufgelöst hat und nur noch ein winziges Häufchen brauner Staub da war, als wir zurückkamen? Und an das kleine Begräbnis im Garten?«
    »Ja, ich weiß noch. Und wir haben die

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