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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Themen gehalten, doch am Vorabend von Helenas Rückreise nach Los Angeles hatte Nick es sich nicht verkneifen können, die Sprache ein letztes Mal auf Avery zu bringen.
    »Du musst nicht unbedingt zu ihm zurück«, hatte sie gesagt. Hughes hatte sich schlafen gelegt, und die beiden Frauen tranken den restlichen Wein, obwohl sie längst zu viel intus hatten.
    »Ich will aber zu ihm zurück«, hatte Helena erwidert, ohne sie anzusehen.
    »Du schuldest ihm nichts. Du glaubst zwar, du würdest ihm etwas schulden, aber auch du hast ein Recht darauf, glücklich zu sein.«
    »Ich glaube nicht, dass ich ausgerechnet von dir Ratschläge bezüglich meiner Ehe annehmen muss.«
    Zum ersten Mal im Leben hatte Nick so etwas wie Verachtung in Helenas Stimme mitschwingen hören. Es hatte sie sehr bestürzt.
    »Ich will doch nur, dass du glücklich bist.« Sie spürte, dass sie wütend wurde.
    »Du hast doch gar keine Ahnung vom Glücklichsein.« Helena hatte ihr direkt in die Augen gesehen. »Dich macht nur das glücklich, was du nicht hast. Du hast immer nur genommen und genommen und dann noch mehr gefordert. Du hast alles und tust, als ob es nichts wäre. Woher solltest du wissen, was mich oder sonst irgendwen glücklich macht?«
    Nick war völlig baff gewesen. »Es ist wahrscheinlich gut, dass wir uns endlich die Wahrheit sagen.« Sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund gehabt. »Jetzt, wo wir Tacheles reden, kann ich es dir ja sagen: Du bist so verdammt egozentrisch, dass du nicht mehr über deine jämmerliche kleine Welt hinaussehen kannst. Ich soll glücklich sein, nur weil ich mehr habe als du? Mein Gott, du müsstest dich mal hören!«
    »Nein, du müsstest
dich
hören.« Helena war aufgestanden. »Ich gehe schlafen.«
    Am nächsten Morgen hatten sie einander um Entschuldigung gebeten und sich an der South Station herzlich geküsst, aber der Vorfall hatte Nick mit der Frage zurückgelassen, wie gut sie ihre Cousine wirklich kannte.
     
    »Die Vögel schreien die ganze Brutzeit hindurch; danach hört man sie jedoch nur mehr selten, wenn überhaupt. Da ihr Schrei der wichtigste Hinweis auf die Anwesenheit der Nachtschwalben ist, lässt sich schwer sagen, wann genau sie davonziehen, denn sie schleichen sich ganz still und leise aus unserer Mitte.«
    Nick schob den silbernen Brieföffner ihrer Mutter unter die Verschlussklappe des ersten Kuverts auf ihrem Stapel. Es stand kein Absender darauf, und als sie die Briefkarte herauszuziehen versuchte, zitterte ihre Hand. Bestimmt war es nur eine Einladung zu einer Cocktailparty, die die Frau irgendeines Kollegen von Hughes veranstaltete, oder eine kurze Nachricht von einer Nachbarin auf der Insel, die darüber berichtete, wie sich ihre Hortensien machten, aber Nicks Mund wurde trotzdem trocken. Seit sie »den Brief«, wie sie ihn insgeheim nannte, erhalten hatte, kroch bei jedem Schreiben ohne Absender diese Angst in ihr hoch.
    »Sei nicht albern«, ermahnte sie sich, aber es überzeugte sie nicht.
    Bevor sie die Karte lesen konnte, musste sie sich hinlegen und ein paar Sekunden lang aus dem Fenster schauen.
     
    Nicky, meine Liebste,
    Tee am Mittwoch?
    16 Uhr
    Alles Liebe, Birdie
     
    Nick lachte erleichtert auf. Nur Tee, nur Birdie. Alles war gut. Sie fühlte sich beschwingt, wie im Rausch. Bald würde Hughes nach Hause kommen, sie hatte ihm sein Lieblingsgebäck gebacken, und sie erwartete ein Kind. Alles war gut. Alles war vollkommen in Ordnung.
    »Der Brief« war an einem Dienstag fünf Monate zuvor, in einem ungewöhnlich kalten September, eingetroffen. Sie hatte sich nicht entscheiden können, ob sie den Schmorbraten aus dem Tiefkühlschrank nehmen oder rasch zum Metzger gehen und Lammkoteletts kaufen sollte, ehe Hughes heimkam. Sie hatte zum Schmorbraten tendiert, weil ihr dann noch Zeit bleiben würde, um am Harvard Square neue Handschuhe zu kaufen.
    Ich sehe erst die Post durch und entscheide dann, hatte sie sich noch gedacht. Es war der dritte Brief auf dem Stapel gewesen, ein dicker, brauner Umschlag, fast schon ein Päckchen. Er war an Hughes adressiert gewesen, nicht getippt, sondern handschriftlich; es konnte also keine Rechnung sein. Außerdem war er von der Basis in Green Cove Springs weitergeleitet worden, und sie hatte schon befürchtet, er könnte von Charlie Wells stammen – womöglich ein Racheakt wegen ihres Verhaltens nach dem gemeinsamen Mittagessen.
    Bei dem ersten Berühren der teuren Briefkarte im Umschlag hatte sie gewusst, dass das Schreiben

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