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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Lachen aus, »diese Frau ist wirklich gemeingefährlich. Arme Tante Helena …«
    »Arme Tante Helena, allerdings.« Nick lachte jetzt ganz offen, und Helena bemerkte, dass ihrer Cousine dabei wie auf ein Stichwort hin eine weiche, dunkle Locke ins Auge fiel. »Mein Gott, Daisy, willst du deine Tante fertigmachen?«
    »Ich finde, es sieht hübsch aus«, warf Hughes ein und lächelte Helena freundlich an.
    Helena betastete ihr Haar. Es war grauenhaft. Sie hatte es sofort gewusst, als Shelley mit der Frisur fertig gewesen war. Sie sah aus wie ein Pudel bei Gewitter. Sie hätte vor Scham im Erdboden versinken können. Am liebsten hätte sie ihre Nähschere geholt und das ganze Haus und alle darin weggeschnitten.
    »Nur gut, dass es sich auswaschen lässt«, meinte Nick.
    Helena blickte ihre Cousine schweigend an.
    »Oder auch nicht«, fügte diese ausgelassen hinzu. »Jedenfalls steht fest, dass ihr zwei jetzt ein Glas Champagner braucht.«
    »Ich«, sagte Helena, ganz deutlich sprechend, so wie sie es in der Klinik gelernt hatte, damit ihre Stimme nicht wütend klang, »trinke wohl besser nichts.«
    »Also ich bitte dich, Helena, du hast Geburtstag! Natürlich kannst du ein Glas Champagner trinken. Oder auch zehn, wenn du willst. Siehst ganz so aus, als könntest du sie gebrauchen.«
    »Nein danke«, entgegnete Helena und hielt den Finger weiter ans Auge. »Ein Aspirin könnte ich allerdings tatsächlich gebrauchen.«
    Nick sah sie mehrere Sekunden lang an, bevor sie reagierte. »Tja, meine Liebe, ich glaube, wir haben kein Aspirin.«
    Keiner sagte etwas. Helena fühlte Daisys Blick auf sich ruhen und hörte ihre Nichte nach Luft schnappen. Sie sah Nick unverwandt ins Gesicht. Nach einer Weile nickte sie, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in die Eingangshalle.
    »Helena …«, rief ihre Cousine ihr nach.
    »Lass sie in Ruhe, Nicky!«, hörte sie Hughes sagen.
    »Verdammt, ich wollte doch nur Festtagsstimmung verbreiten. Meine Güte – es ist fünf Jahre her! Wann wird sie mir denn endlich verzeihen?«
    Helena ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Sie nahm die Flasche Champagner aus der Türablage, zog den Silberlöffel heraus und genehmigte sich einen großzügigen Schluck. Nachdem sie die Flasche behutsam und so leise wie möglich zurückgestellt hatte, sah sie sich um. Die Nachmittagssonne knallte durch die Fenster, die gelben Wände leuchteten selbstgefällig. In der Ecke neben dem Herd stand, von einem ziemlich alten Geschirrtuch mit aufgedruckten kleinen Holländern bedeckt, der Engelskuchen. Helena ging hin, lüftete das Tuch und betrachtete die goldgelbe, flaumige Oberfläche mit dem Loch in der Mitte. Still vor sich hin lächelnd, bohrte sie den Finger in den weichen, zuckrigen Teig, bis der Nagel auf die Kuchenplatte stieß. Dann steckte sie den Finger in den Mund und kostete die flauschige Süße. Sie fletschte die Zähne.
    Sie warf das Geschirrtuch neben den Herd, ergriff die Platte, ging damit durch die Hintertür hinaus und führte das Fliegengitter mit der Hand, bis es lautlos an den Rahmen stieß. Mit leisen Schritten, die Kuchenplatte vor die Brust gedrückt, überquerte sie den Rasen.
    »Komm, mein Guter«, säuselte sie, als sie den weißen Lattenzaun erreichte.
    Der schwarze Hund sprang durchs Gras auf sie zu und zertrampelte dabei einen Teil des Blumenbeets, an dem er gerade geschnüffelt hatte. Helena langte über den Zaun und streichelte die zarte Stelle hinter dem Ohr. Der Hund wedelte mit dem Schwanz.
    Dann beugte sie sich so weit hinüber, dass sich die Lattenspitzen in ihren Bauch drückten, und stellte die Platte auf den Boden. Der Hund schnupperte an dem Engelskuchen und begann, große Brocken davon herauszureißen und im Ganzen zu verschlingen.
    Zum ersten Mal an diesem Tag überkam Helena eine gewisse Ruhe, ja Heiterkeit. Sie sah dem Tier zu, bis es alles aufgefressen hatte.
    »Guter Hund«, sagte sie leise zu seinem erwartungsvoll nach oben gewandten Gesicht. »So ist es recht!«

November 1962
    S ie waren draußen vor der Tür. Sie hatte diese Stimme lange nicht mehr gehört, aber es war die Hexe, eindeutig. Die Hexe und der Produzent. Erst sagte die Hexe etwas, dann der Produzent. Die Hexe, der Produzent. Wie beim Tennis. Die Hexe und der Produzent spielten Tennis. Helena lachte und versuchte ihre Stimme sofort mit einem Kissen zu dämpfen. Sie durften sie nicht hören.
    »Was soll das heißen, Sie haben keinen Schlüssel?«
    »Nun, Mrs. … Mrs. Derringer,

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