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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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zu.
    »Oh.« Helena drehte die Flasche in der Hand. Das Rezept war von einem Dr. Hofmann auf ihren Namen ausgestellt. »Nembutal. Also, ich weiß nicht, Avery. Bei uns zu Hause wurden nie Tabletten genommen.«
    »Du nimmst doch auch ein Aspirin oder ein Tonikum, wenn du Kopfschmerzen hast, nicht wahr?«
    »Ja, schon.«
    »Das hier ist genau dasselbe, nur eben nicht gegen Kopfschmerzen, sondern für wunderschöne kleine Mäuschen mit hart arbeitenden Ehemännern, die sich einsam fühlen. Ich weiß nämlich, dass du dich einsam fühlst. Ich will dir ja nur helfen. Du musst sie natürlich nicht nehmen, wenn du nicht willst.«
    »Na ja, ich fühle mich tatsächlich ein bisschen … unnütz. Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht diesem Damen-Lesekränzchen beitreten soll, von dem ich dir erzählt habe.«
    Avery lachte. »Ich brauche dich hier. Du bist nicht unnütz, du hilfst mir mehr, als du weißt. Seit unserer Hochzeit arbeite ich härter denn je. Bitte verlass mich um Himmels willen nicht einem Damen-Lesekränzchen zuliebe!«
    Jetzt musste auch Helena lachen. »Schon gut, mein Liebster, ich verspreche dir, dass ich dich nicht verlassen werde.« Doch die Tabletten stellte sie ganz hinten in den Badezimmerschrank.
    Eine Woche später saß sie allein am Küchentisch und lauschte dem Ticken der Wanduhr in dem leeren Haus. Ihre täglichen Pflichten hatte sie erledigt. Sie spielte mit dem Gedanken, Nick zu schreiben, aber es war noch keine Antwort auf ihren letzten Brief gekommen, in dem sie versucht hatte, ihre Geldprobleme herunterzuspielen. Nicks Schweigen war wie eine Ohrfeige. Während sie zusah, wie der Sekundenzeiger seinen Kreis vollendete, stieg Wut in ihr auf. Sie dachte an die Ringe unter Averys Augen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, an die viele Mühe, die er in sein Projekt steckte. Und an Nick, die alles hatte. Ihr war klar, dass sie sich das Ferngespräch eigentlich nicht leisten konnten, aber sie beschloss trotzdem, ihre Cousine anzurufen.
    Zu ihrer eigenen Überraschung verflog ihre Verbitterung schlagartig, als sie Nicks Stimme hörte. Sie hatte ganz vergessen, wie sehr sie das Lachen ihrer Cousine liebte, und Nick schien sich ehrlich darüber zu freuen, dass sie sich meldete. Sie erzählte Helena eine verrückte Geschichte – dass sie sich immer im Badeanzug in die Einfahrt stelle und sich über ihre Nachbarinnen lustig mache –, und eine Zeitlang dachte Helena nicht mehr an die Uhr und den kreisenden Zeiger. Nach einer Weile nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und brachte den Verkauf des Cottages aufs Tapet.
    »Avery … also, eigentlich wir beide … wir finden, dass es sinnvoll wäre.« Es war nicht fair, alles auf Avery zu schieben. Schließlich war es nur ein Vorschlag gewesen, wie er es genannt hatte. »Unsere finanzielle Situation ist etwas angespannt, und es ist ja unsinnig zu warten, wenn wir das Geld jetzt brauchen.«
    »Du willst das Cottage verkaufen?« Die Stimme ihrer Cousine wurde kühl.
    »Es gehört mir«, sagte sie leise.
    »Verdammt noch mal, was glaubst du eigentlich, Helena? Das Cottage hat mein Vater gebaut. Und jetzt? Jetzt meint dein Mann, du solltest es verkaufen, nur weil ihr knapp bei Kasse seid?«
    »Nein, es ist anders, Nick.« Helena spürte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.
    »Es war das Haus deiner Mutter, Helena. Was hast du dir dabei gedacht?«
    »Schon gut«, sagte Helena. Der Hörer in ihrer Hand zitterte. »Natürlich, du hast recht. Wir werden uns etwas anderes überlegen.«
    Doch nachdem sie aufgelegt hatte, war sie ins Badezimmer gegangen und hatte die Flasche mit dem verschreibungspflichtigen Medikament aus dem Schrank geholt. Sie hatte eine Tasse mit Leitungswasser gefüllt und eine von den kleinen gelben Tabletten geschluckt. Dann hatte sie sich aufs Bett gelegt und gewartet, während ihre Arme und Beine zu prickeln begannen und schließlich taub wurden. Irgendwann hatte sie sich nur mehr wie ein Radiergummi gefühlt, und dann war auf einmal alles dunkel geworden.
    Am Abend erwachte sie bleiern müde, und ein einziger Martini im Mocambo führte dazu, dass sie an Averys Arm hinauswankte. Was die Träume betraf, so hatte er sich geirrt, es gab keine; nur ein tiefes Nichts. Doch immerhin vertrieb es ihr die Zeit in dem Haus an der Blue Sky Road. Später kam anderes, die schweren goldenen Opiate, die wie Zucker im Blut wirkten, und die Amphetamine mit ihrer wuseligen Aufgedrehtheit.
    Als Helena schwanger wurde, lernte sie Dr. Hofmann,

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