Zeit der Raubtiere
verlasse ich mich. Sehr viel weiter reicht mein Vertrauen allerdings nicht, wie Sie vielleicht verstehen werden. Also, was muss ich tun?«
»Wie Sie wünschen. Ich habe eine Liste mit neuen Medikamenten erstellt und vermerkt, wann und in welcher Dosis sie verabreicht werden müssen. Außerdem gebe ich Ihnen die Telefonnummer einer privaten Krankenschwester. Das heißt zwar nicht, dass Mrs. Lewis keinerlei Entzugserscheinungen zeigen wird, aber man wird sie in den Griff bekommen. Alpträume, Reizbarkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche, möglicherweise auch Krampfanfälle. Mit alldem müssen wir rechnen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.« Jetzt klang die Hexe nicht mehr ganz so schneidig. »Wann wird sie reisefähig sein? Ich möchte sie so bald wie möglich nach Hause bringen.«
»Auf keinen Fall vor Ablauf einer Woche. Es kann auch zwei Wochen dauern. So, mit dem Phenobarbital fangen wir an. Ihre Cousine hat zwar in großem Umfang Opioide konsumiert, aber in ihrem Fall sind die Barbiturate meine größte Sorge …«
Helena wollte nichts mehr hören. Sie wollte Avery. Wo war er? Solange die Hexe da war, würde er nicht zurückkommen. Was hatte sie auf ihn gewartet! Aber er war nicht wiedergekommen. Er habe Ruby gefunden, hatte er gesagt. Aber es war nicht Ruby gewesen, sondern eine andere. Eine Blondine. Ruby hatte rotes Haar gehabt. Sie wusste noch, dass sie ihm das gesagt hatte. Dass es nicht Ruby sein könne, weil Ruby rotes Haar gehabt habe. Da hatte Avery gesagt, er werde ihr Haar rot färben. Basta. Er werde Probeaufnahmen machen. Und er habe Ruby gefunden. Und sie solle schlafen, und wenn es ihr wieder bessergehe, solle sie die Hexe anrufen und sich das Geld holen. Ein für alle Mal. Dann werde er zurückkommen. Und jetzt war sie hier. Hatte sie angerufen? Helena konnte sich nicht erinnern. Aber wenn sie das Geld hatte, wo blieb dann Avery? Warum hatte sie ihr nicht einfach das Geld gegeben? Wie oft hatte sie schon um das Geld gebettelt! Der Hexe war das egal. Die Hexe nahm ihr Ed weg. Sie sagte, Ed müsse ins Internat. Weil er anders sei als andere Jungen. Und jetzt hatte Avery sie verlassen, weil sie versagt hatte. Sie hatte sich das Geld nicht geholt, und sie hatte zugelassen, dass man ihr Ed wegnahm, und jetzt liebte Avery sie nicht mehr.
»Schschsch, alles ist gut, meine Süße, ich bin ja hier. Ach, Helena, nicht weinen!«
Sie wollte sie nicht um sich haben. Warum ging sie nicht weg?
»Du musst jetzt deine Medizin nehmen. Der Arzt sagt, dass es dir dann bessergeht.«
Erst war da das kalte Wasser. Und dann nur mehr Dunkelheit.
In der Elm Street. Durch die Fliegengittertür sah Helena Nick, die auf der Hintertreppe hockte und las.
»Ich habe mal wieder den Tag verwechselt. Heute war nicht der Tag für Fleisch. Ich habe Dosenmais – zumindest glaube ich, dass es Dosenmais ist.«
Nick blickte von ihrem Buch auf und zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe nichts anderes erwartet.«
Helena lachte. »Komm, hör auf! Ich weiß ja, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin, aber diesmal habe ich eine gute Ausrede.« Sie öffnete die Tür und setzte sich neben ihre Cousine. »Ich habe jemanden kennengelernt. In der Eisenwarenhandlung. Übrigens – Nadeln für den Plattenspieler hatten sie nicht. Das ganze Metall geht an die Truppen. Mr. Denby hat mich so bitterböse angeschaut, als wäre ich eine deutsche Spionin.«
»Vielleicht können wir die alte irgendwie schärfen. Ach, ist das langweilig – Dosenmais und zerkratzte Schallplatten …«
»Soll ich dir nichts von dem Mann erzählen, den ich kennengelernt habe?«
»Was gibt es da zu erzählen? Hat er Plattfüße, oder ist er nur vom anderen Ufer?«
»Sei nicht so gemein. Er arbeitet im Amt für Kriegsinformation – in Hollywood, ist das nicht aufregend?«
»Unglaublich spannend, Süße. Hat er zufälligerweise Plattenspielernadeln? Das wäre nämlich wirklich aufregend.«
»Nein, aber er hat mich zum Essen eingeladen. Und er findet mich schön und meint, ich sehe Jane Russell ähnlich.«
»Jane Russell – natürlich.« Nick sah sie an und begann zu lachen. Sie warf das Buch ins Gras und legte die Arme um Helena. »Ja, du bist schön. Sehr sogar. Auf deine ganz eigene Art. Aber bestimmt nicht wie diese nuttige Jane Russell.«
Helena lehnte ihren Kopf an den von Nick. »Ein Rendezvous.«
»Ja, ein Rendezvous.«
»Seit Fen hatte ich kein einziges Rendezvous mehr.« Helena hob den Kopf und sah ihre Cousine an. »Darf ich dich um einen
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