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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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Nick sie getreten hatte, tat ihr das Schienbein weh. Sie wusste nicht, warum sie getreten worden war, obwohl doch Nick etwas Schlimmes getan hatte. Sie hatte Helena eine Überraschung versprochen und war mit ihr zur Main Street gegangen, wo gerade die Fahrbahn geteert wurde. Helena hatte entsetzt zugesehen, wie Nick sich bückte, einen Streifen aus dem warmen Teer riss und ihn sich in den Mund steckte. Dann wollte Nick Helena dazu bringen, dasselbe zu tun. Helena hatte sich geweigert, und Nick hatte sie als Baby bezeichnet. Sie hatte sie mit einem Stück Teer beworfen und Helenas Kleid schmutzig gemacht. Helena hatte geweint, weil ihre Mutter nun wütend werden würde, und zu Nick gesagt, sie werde alles erzählen. Da hatte Nick ihr mit aller Kraft gegen das Schienbein getreten.
    Jetzt suchte Nick sie. Aber Helena hatte sich hinter den Vorhängen oben bei der Treppe versteckt. Sie hörte ihren Großvater im Stockwerk unter ihr.
    »Ah, da bist du ja, du Teufelsbraten«, sagte er zu Nick. »Was hast du denn schon wieder ausgefressen?«
    »Nichts, Großvater.«
    »Ist das da Teer an deinen Zähnen?« Ihr Großvater lachte. »Ganz die gute alte Nick. Du bist wirklich ein Teufel, aber macht nichts. Ich wollte dir zeigen, was ich aus Indien mitgebracht habe. Ist das nicht schön?«
    Helena wollte es unbedingt auch sehen, zögerte aber noch, ihr Versteck zu verlassen.
    »Siehst du diese Tiger? Wenn ihr alt genug seid, deine Cousine und du, lasse ich daraus Kleider für euch machen. Na, was sagst du dazu?«
    »Er ist wunderschön«, sagte Nick ein wenig atemlos.
    »Na gut. Ich gehe jetzt in das Lesezimmer und trinke etwas. Das darfst du aber nicht deiner Großmutter verraten!«
    »Bestimmt nicht, Großvater«, antwortete Nick und fügte etwas lauter hinzu: »Ich hasse nichts so sehr wie Petzen.«
    »Ich auch. Recht so!«
    Helena wartete eine Weile, bis alles ruhig war; dann spähte sie über das Treppengeländer. Nick stand mit leicht zur Seite geneigtem Kopf unten in der Eingangshalle. Helena saugte so lange an ihren Backen, bis sich auf der Zunge genug Spucke angesammelt hatte. Sie beugte sich, so weit sie konnte, über das Geländer, spieh den Speichelbatzen aus und sah zu, wie er mit sattem Platschen auf dem Kopf ihrer Cousine landete.
     
    Als Helena die Augen öffnete, hörte sie sie noch immer. Aber der Raum hatte sich verändert, er war jetzt viel größer. Das erkannte sie an der riesigen Entfernung zwischen dem Bett und der Wand. Und die Wände waren minzgrün. Es gab ein Nachtkästchen, aber die Tabletten fehlten, es stand nur ein Glas Wasser darauf. Sie hätte gern danach gegriffen, denn ihr Mund war trocken, doch sie wollte nicht zu erkennen geben, dass sie wach war.
    »Ich habe mit Dr. Hofmann telefoniert. Er hat mir eine Liste mit allen Arzneimitteln gegeben, die sie einnimmt, und ich muss ehrlich sagen, Mrs. Derringer, bei diesem Cocktail ist es ein Wunder, dass sie noch keine Überdosis abbekommen hat.«
    »Verstehe. Und hat dieser Arzt, oder was er ist, auch gesagt, warum sie die Tabletten geschluckt hat?«
    »Das Übliche: Angstzustände, Depressionen, Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit.«
    »Alles auf einmal?«
    »Meiner Meinung nach haben einige dieser Tabletten ihrerseits Symptome hervorgerufen, die dann wiederum mit weiteren Verschreibungen bekämpft wurden. Aber genau weiß ich es auch nicht, ich war ja mit diesem Fall nicht befasst. Sie hat die Mittel offenbar ziemlich lang in einigermaßen vernünftigen Dosen eingenommen, in den letzten drei Jahren dann aber in einem Ausmaß, das ich als missbräuchlich bezeichnen würde.«
    »Verdammt. Wenn ich ihren Mann finde, erwürge ich ihn eigenhändig – und diesen verfluchten Quacksalber gleich mit.«
    »Ja. Aber Ihnen ist doch klar, dass die Mittel nicht sofort abgesetzt werden können?«
    »Soll das etwa heißen, dass sie die Tabletten weiter nehmen muss?«
    »Ja, genau das soll es heißen. Wenn wir die Mittel vollständig absetzen, könnte der Entzug sie töten. In diesem Zusammenhang möchte ich wiederholen, dass Ihre Cousine in eine Klinik gehört. Die Einnahme muss regelmäßig und präzise dosiert erfolgen, das übernimmt am besten jemand mit Erfahrung. Ich glaube nicht, dass ein Hotel der geeignete Ort ist, um eine so ernste Situation zu meistern.«
    »Ich stecke Helena in keine Klinik. Die Ärzte hier haben schon genug angerichtet.«
    »Wir sind nicht alle Monster, Mrs. Derringer.«
    »Sie wurden mir von Dr. Monty empfohlen, und auf ihn

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