Zeit der Raubtiere
den Arzt, der die öden Stunden ihrer Tage füllte, endlich persönlich kennen. Er sah genauso aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, was sie sehr überraschte. Sein feines silbriges Haar, zu dem die dunklen, buschigen Brauen einen irritierenden Gegensatz bildeten, war einer glänzenden, mit Leberflecken besprenkelten Glatze gewichen und bedeckte fast nur mehr den Hinterkopf. Er hatte ein freundliches Gesicht und wirkte onkelhaft und zerstreut.
»Nun, Mrs. Lewis«, sagte er, während er irgendwelche Patientenpapiere – ihre wahrscheinlich – überflog, die in einem Aktendeckel steckten. »Sie sind also in anderen Umständen, ja? Nun, dann müssen Sie mit dem Nembutal aufhören und ebenso mit dem, äh …« Er machte eine kurze Pause und las weiter. »Ja, ebenso mit dem Demerol und dem Dilaudid. Auf jeden Fall mit den Opioiden. Und mit dem Benzedrin.«
Er hob den Blick. Helena saß starr da. Sie hatte zu diesem Arztbesuch extra Handschuhe angezogen, weil sie glaubte, dass Nick das so machen würde, aber ihre Handinnenflächen juckten ein bisschen, und sie überlegte, ob es komisch aussehen würde, wenn sie sie jetzt auszöge.
»Die Ängste, unter denen Sie offensichtlich leiden, Mrs. Lewis, können nach der Geburt des Kindes verschwinden, so dass keine Medikation mehr vonnöten ist. Ist alles schon vorgekommen. Sollten Sie aber während der Schwangerschaft das Bedürfnis haben, etwas einzunehmen, dann rate ich zu einer halben oder einer viertel Nembutal. Das müsste genügen.«
»Gut«, murmelte Helena unsicher.
»So, und jetzt sehe ich Sie mir mal an«, sagte Dr. Hofmann und klopfte auf die Metallliege mit den Beinstützen.
Helena schaffte es tatsächlich, von den meisten Tabletten die Finger zu lassen. In den ersten Wochen musste sie sich, vor allem morgens, ziemlich oft übergeben und litt unter Schlafstörungen, was jedoch, wie sie las, in der Schwangerschaft häufig vorkam. Aber sie war sehr beschäftigt mit den Vorbereitungen auf das Baby. Sie bestellte mehrere Schnittmusterhefte aus dem Sears-Roebuck-Katalog und nähte den ganzen Tag Strampelanzüge in allen Größen und Farben, wobei sie darauf achtete, weder Rosa noch Hellblau zu bevorzugen.
Außerdem plante sie, Nick und Hughes an der Ostküste zu besuchen.
»Ich habe sie schon so lange nicht gesehen, Liebster, und wenn das Baby erst mal da ist, kann ich nicht mehr hinfahren«, erklärte sie Avery in dem Versuch, ihm die hundertvierzig Dollar für die Rückfahrkarte abzuschmeicheln.
»Also, ich glaube nicht, dass wir unser Geld für so etwas ausgeben sollten, mein Mäuseschnäuzchen. Du weißt doch, dass wir alles für unser Projekt brauchen, vor allem, weil du dich weigerst, dein Haus zu verkaufen.«
»Vielleicht kann ich sie überreden, wenn wir uns persönlich sehen.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie überhaupt überredet werden muss.«
»Es ist kompliziert.« Helena legte Avery die Hand auf den Arm. »Das sind Familiendinge.«
»Herrgott noch mal«, entgegnete Avery und stieß ihre Hand weg, »ich dachte immer, ich wäre deine Familie.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du mich verlassen willst – bitte, dann tu’s!«
»Mein Liebster …«, sagte Helena verzweifelt.
»Kommt nicht in die Tüte! Wenn du die Fahrkarte unbedingt willst, dann bring deine zickige Cousine dazu, sie zu bezahlen.«
Als sie eine Stunde später vom Friseur zurückkamen, hatte Helenas rechtes Auge zu zucken begonnen.
»Es tut mir leid, Tante Helena«, sagte Daisy, doch Helena weigerte sich, ihre Nichte anzusehen. Sie hatte während der ganzen Rückfahrt nicht ein einziges Wort an sie gerichtet.
Aus dem Haus drang Plattenmusik, Sinatra mit »Somethin’ Stupid«. Helena lachte. Ihr Auge zuckte.
Sie folgten den Klängen und gelangten in den blauen Salon, wo sich Nick in einer seidig glänzenden weißen Tunika, ein Glas Champagner in der Hand, mitsingend hin und her wiegte und kleine Schaumtröpfchen auf den Teppichboden verschüttete.
Hughes stand an der Bar und machte sich einen Drink.
Helenas Auge zuckte so heftig, dass sie den Zeigefinger daraufdrückte.
Nick drehte sich um, formte mit den Lippen noch ein paar Wörter des Songtexts und erstarrte vor Schreck, als sie die beiden in der Tür stehen sah.
»Oh, mein Gott, Helena«, sagte sie und schlug die Hand vor den Mund, um zu verbergen, dass sie lachte. »Wie hat dich denn diese Shelley zugerichtet? Ist die verrückt?«
»Ach, Mummy«, sagte Daisy und brach ihrerseits in nervöses
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