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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Kälte und Hitze, Hagel und Dürre. Wenn alle Menschen an einer Epidemie sterben müßten, dann glaube ich, daß Ambrose zumindest als letzter stürbe. Ohne ihn gäbe es kein Whittlesea Hospital. Ohne ihn wäre Pearce noch im St. Barts in London, und die anderen, Hannah und Eleanor, Edmund und Daniel, würden immer noch darauf warten, daß sich ihnen das offenbare, was sie »die wahre Arbeit, die uns durch die Saat Christi gezeigt worden ist, die allen Menschen innewohnt«, nennen.
    Edmund ist ein Mann meines Alters, der zweimal im Gefängnis war, weil er anglikanische Kirchen betreten und Geistlichen Schaden zugefügt hat, indem er ihnen Kohlköpfe an den Kopf warf. Er hat strahlende runde Augen und eine hohe Stimme und legt großen Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Wenn heftige Regenschauer über den Fens niedergehen, pflegt er alle Kleidung bis auf eine zerlumpte Unterhose abzulegen und Runde um Runde um die Mauern zu laufen, wobei er sich sein Gesicht und seinen Körper und sogar seine Geschlechtsteile einseift. Ich habe bemerkt, daß Hannah oder Eleanor, wenn sie zufällig aufblicken und sehen, daß Edmund mit seinen Waschungen beschäftigt ist, einander zulächeln, um dann gleich wieder wegzusehen und ihre Arbeit fortzusetzen – doch das Lächeln bleibt noch eine Weile auf ihren
Gesichtern. Ihnen scheint Edmunds Ritual ein unschuldiges Vergnügen zu bereiten.
    Beide sind kräftige Frauen mit ausladenden Hüften, die mit stämmigen Beinen, die in Holzschuhen stecken, fest auf dem Boden stehen. Hannah hat graue Augen, Eleanor blaue. Ich schätze Hannah auf dreißig, und Eleanor mag drei oder vier Jahre jünger sein. Sie sind sowohl in ihrer Liebe zu Gott als auch in ihrer Wohltätigkeit gegenüber Seinen Kreaturen sehr freigiebig. Ich glaube nicht, schon einmal Frauen wie sie getroffen zu haben, denn sie scheinen überhaupt keine Eitelkeit zu kennen; sie haben kein Selbstmitleid und stehen zu ihrer Meinung. Im vergangenen Monat habe ich ein- oder zweimal gebetet, krank zu werden, damit mich Hannah und Eleanor pflegen. Aber seltsamerweise, wenn man bedenkt, wie ungesund die Luft im Fenland und wie unzureichend meine Mahlzeiten sind, bin ich nicht einen Tag krank gewesen. So gebe ich mich damit zufrieden, beim Essen in ihrer Nähe zu sitzen, da ich ihre Ruhe als wohltuend empfinde.
    Der sechste der Whittlesea-Betreuer ist Daniel. Er ist der jüngste, und sein Gesicht hat noch die gewisse Transparenz der Jugend – als ob ihm erst die Zeit die richtige Substanz verleihen würde. Er ist höchstens siebzehn Jahre alt. Da er von der Welt noch nichts gesehen hat, kann ihn nichts, was er sieht, erschrecken oder anekeln. Er steht allem offen gegenüber. Er zuckt vor nichts zurück, was er im William Harvey sieht, riecht oder hört. Außerdem ist er derjenige unter den sechs Freunden, der mir am wenigsten Vorbehalte entgegenbringt. Er kennt keine Mißbilligung. Die anderen wollen mich zum Quäkertum bekehren, Daniel nicht. Als er hört, daß ich einmal am Hofe war, bittet er mich vielmehr, ihm im Vertrauen zu erzählen, was das dort für eine Welt ist, wie die Leute
sprechen, wie sie sich kleiden und die Zeit vertreiben. So bin ich auf einmal dabei, ihm das Krocketspiel zu erklären, und Daniel lauscht und wiederholt Erklärungen wie »Die rote Kugel darf nun, da sie das Tor passiert hat, versuchen, die schwarze Kugel des Gegners zu krockieren« mit solcher Ehrfurcht, als wären sie der dreiundzwanzigste Psalm. Und für einen Augenblick sind wir beide sehr glücklich, bis mir einfällt, daß ich in der Welt, wo Krocket gespielt wird, keinen rechtmäßigen Platz mehr habe und daher am besten daran täte, seine komplizierten Regeln zu vergessen. Daher breche ich ab, und Daniel ist niedergeschlagen, jedenfalls für einen Augenblick. »Warum können wir nicht«, fragt er mich eines Tages, »hier ein wenig Krocket spielen, Robert?« Ich tue so, als denke ich darüber nach, bevor ich antworte: »Der Anblick eines Krockettors würde John sehr unglücklich machen, Daniel.«
    Und so komme ich zu »John«, wie ich jetzt meinen spindeldürren Freund Pearce nennen muß.
    Die Freude und Überraschung, die er bei meiner Begrüßung gezeigt hatte, wurden bald wieder von der Strenge abgelöst, mit der er mich immer glaubt behandeln zu müssen. Wie ich es nicht anders erwartet hatte, überraschte es ihn weder, daß ich der königlichen Gnade verlustig gegangen war, noch hatte er besonders viel Verständnis für meine Verzweiflung.
    »Als

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