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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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aus Gerste und Hafer bestand, den anderen gegenüber. »Er ist nicht empfindlich oder zartbesaitet. Er behauptet zwar, die Medizin vergessen zu haben, doch ich weiß, daß das nicht stimmt. So wollen wir Christus danken, daß er uns Robert geschickt hat, und ihn bitten, daß er ihn bei der Arbeit, die wir für ihn finden werden, unterstützt.«
    Darauf folgten Gebete rührender Einfachheit. »O Herr, schicke ein Licht, um Robert den Weg zu weisen«, sagte Ambrose. »Lieber Jesus, sei mit Robert«, sagte Eleanor. »Gott im Himmel, nimm Roberts Hand und steh ihm bei«, sagte Hannah. »Und sei auch bei ihm, wenn die Nacht hereinbricht«, sagte Daniel. »Amen«, sagte Edmund.
    Ich sehe einen nach dem anderen an. Nun ja, denke ich, sie kennen mich nicht. Ich bin Johns Freund, und er hat sich für
mich verbürgt, und so haben sie mich aufgenommen. Aber sie wissen nicht, wieviel Angst ich habe. Sie wissen nicht, daß ich mich schon lange von Gott entfremdet habe. Sie wissen nicht, daß ein Wahnsinn in mir ist, der Gras und Bäume zu verrückten Linien und Klecksen werden läßt. Sie haben mich in der Anstalt aufgenommen, aber sie wissen nicht, daß mein Geist sich am Chaos erfreut. Ich bin nicht der Richtige für sie, und ich werde ihnen unrecht tun, und sie wissen es nicht. Ich öffnete den Mund, um ihnen zu erzählen, was für ein Mann ich bin, aber es kamen nur ein paar gemurmelte Worte des Dankes für ihre Gebete aus mir heraus, »deren ich mich«, sagte ich zu ihnen, »hoffentlich würdig erweisen werde«. Ich sah Pearce bei meiner plötzlichen Demut zustimmend nicken.
    So begann mein erster Tag im Whittlesea. Ambrose und Hannah machten mit mir einen Rundgang durch die Anstalt. Der Regen, der mir auf meiner Reise erspart geblieben war, durchtränkte nun die gestaltlose Ebene, vom Wind schwallweise dahingetrieben.
    Als Ambrose die Tür zum George Fox entriegelte und diese nach innen aufschwang, eilte ich ohne viel nachzudenken hinein, um ins Trockene zu kommen, und zog so plötzlich den nervösen Blick von etwa vierzig Männern auf mich, die in zwei dichtgedrängten, unordentlichen Reihen längs der Scheunenwände herumlagen.
    Sofort herrschte helle Aufregung. Einige der Männer standen auf. Ich sah, wie einer von ihnen die Hand eines anderen umklammerte, als ob er Angst habe. Ein paar lachten. Andere wiederum kamen näher und betrachteten mich, als wäre ich ein seltsames Ausstellungsstück. Einer rollte sein dreckiges Nachthemd hoch, kicherte und entblößte seinen Hintern,
der voller wunder Stellen war. Der Gestank hier war entsetzlich, da die Nachteimer voll waren und all die »notleidenden Freunde« (wie Ambrose die Wahnsinnigen nannte) einen verlausten und ungewaschenen Eindruck machten. Doch niemand kreischte oder schrie herum, wie es die Geistesgestörten des London Bedlam angeblich ständig taten. Keiner war angekettet, alle konnten sich in der großen Scheune frei bewegen, und sie waren nicht im Dunkeln. Vier kleine, vergitterte Fenster ließen so viel Licht herein, daß ich sehen konnte, daß sich am anderen Ende eine Galerie befand, die durch zwei Leitern erreichbar war und auf der ein riesiger Webstuhl stand.
    »Wie ich sehe, gibt es einen Webstuhl«, sagte ich zu Ambrose. »Weben diese Männer darauf?«
    »Ja«, erwiderte Ambrose und rieb die Hände aneinander. »Der Webstuhl. Den haben wir mit einem Wagen vom Armenhaus in Lynn, das geschlossen worden ist, hierhergeschafft.«
    Meine Gedanken, die der Mann mit dem nackten Hintern noch immer zu beanspruchen versuchte, indem er vor mir herumsprang, kehrten sofort zum Richter Hogg und meiner verlorenen Aufseherrolle zurück. Nun würde ich nie den Armen beistehen, sondern dafür den Verrückten dienen. Doch schien es zwischen diesen beiden Kategorien von Menschen kaum einen Unterschied zu geben, denn viele der Gesichter, die zu mir heraufstarrten, hatten einen ähnlich verzweifelten Ausdruck, wie ich ihn bei den Armen wahrgenommen hatte, die bei Bidnold Holz aufgelesen hatten.
    »Was wird auf dem Webstuhl hergestellt?« fragte ich Ambrose.
    »Segel!« sagte er.
    »Segeltuch? Für Kriegsschiffe?«
    »Nein, Robert. Für die Fischereiflotte in Lynn. Als Bezahlung schicken sie uns Heringe.«
    Dann hielt Ambrose vor den Bewohnern des George Fox eine kleine Ansprache. Er sprach freundlich zu ihnen, wie zu Kindern, und im großen und ganzen waren sie währenddessen still, bis auf zwei am Ende der Scheune, die anfingen, sich in der unflätigsten Sprache, die ich je

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