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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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überhaupt hielt, nämlich mit dem königlichen Lächeln.
    So trabte ich mit meinen unzusammenhängenden Gedanken, die sich im Kreise drehten und immer wieder auf mich selbst zurückkamen, auf das Dorf Doddington zu und verbrachte die dritte Nacht meiner Reise in der kleinen Stadt March, wo ich sehr unruhig schlief, da ich voller Beklommenheit meiner bevorstehenden Ankunft in Pearces Heilanstalt entgegensah.
     
    Das New Bedlam oder Whittlesea Hospital ist an einem Ort mit dem poetischen Namen Earls Bride, die Braut des Grafen, gegründet worden, doch ich erkannte sofort, daß es eigentlich gar kein richtiger Ort war, sondern nur ein kleiner, verstreuter Haufen armseliger Häuschen ohne eine Schmiede, eine Schenke, einen Milchladen oder eine andere Möglichkeit, Lebensmittel einzukaufen. Es gleicht einem untergegangenen Dorf, einem, das Schiffbruch erlitten hat. Die wenigen, die an ihm festhalten, müssen ein beängstigend eintöniges Leben ertragen: Ihre einzigen Besucher sind die Vögel
und der pfeifende Wind. Als ich jetzt Earls Bride zum ersten Male erblickte, hatte ich den ausgesprochen abwegigen Gedanken, daß das Einsperren von hundert Geisteskranken in ihrer Mitte den Bewohnern dieses gottverlassenen Ortes wenigstens etwas Abwechslung gebracht hatte.
    Als wir uns der Heilanstalt näherten, die aus ein paar Scheunen besteht, welche um ein kalkgetünchtes, niedriges Haus von der Art, wie es ein Freibauer bewohnen könnte, herumgebaut worden sind, blieb Danseuse abrupt auf der Stelle stehen, und auch kräftiges Treten in ihre Flanken konnte sie nicht dazu bewegen weiterzugehen. Ich stieg ab, sah mich um und lauschte. Abgesehen vom Pfeifen des Windes konnte ich nichts hören, doch muß ich hier anmerken, daß mein Gehör seit meinem Treffen mit dem König in seinem Sommerhaus eine unerklärliche Einbuße erlitten zu haben scheint; aus Danseuses Widerspenstigkeit und ihren gespitzten Ohren konnte ich ersehen, daß sie ein Geräusch gehört hatte, das ihr Unbehagen einflößte.
    Um das Gebäude herum ist, wie um eine Burg, eine Mauer aus Feuersteinen und Lehm errichtet worden, jedoch wohl nicht, um Feinde draußen zu halten, sondern die verrückten Leute drinnen, damit sie nicht in dem flachen Land umherirrten und ertranken. In die Mauer eingelassen ist ein Eisentor, und dorthin führte ich Danseuse, meinen Arm beschwichtigend um ihren Hals gelegt.
    Das Tor war verschlossen. Ich klopfte und wartete, drehte mich dann um und blickte auf das trostlose Earls Bride auf seinem kleinen Damm. Es war der Blick eines Menschen, dem plötzlich der Mut sinkt und der daher umkehren und denselben Weg wieder zurückgehen möchte. Ich hätte es auch getan, wenn mir Bidnold noch gehört hätte. Ich wäre
nicht einmal geblieben, um wenigstens meinen alten Freund zu begrüßen. Ich wäre, kurz gesagt, davongelaufen.
    Ein großer Mann, riesig in jeder Hinsicht, mit einem großen, gewölbten Brustkasten und gewaltigen Händen, öffnete mir das Tor und stand fragend lächelnd da. Er hatte rotes, lockiges Haar, das sehr dick und üppig war, und einen roten Bart, unter dem er seine Hände zusammengelegt hatte.
    »Wie kann ich Euch helfen, Freund?« fragte er.
    Ich nickte ihm grüßend zu, wobei ich ein besorgniserregendes Zittern am Hals meines Pferdes bemerkte.
    »Ich bin gekommen, um meinen Freund John Pearce zu besuchen und … nun, eigentlich weiß ich keinen anderen Grund, warum ich hier bin, es sei denn, weil ich glaube, daß ich mich ein wenig nützlich …«
    »Bitte tretet ein. Wir besorgen Hafer für Euer Pferd. Es ist kein glücklicher Ort, zu dem Ihr gekommen seid, sondern ein Ort des Leidens. Ich nehme an, Ihr habt unsere Worte aus dem Buch Jesaja über dem Tor bemerkt?«
    »Ich habe sie gesehen, aber nicht gelesen.«
    »Aha. Dann lest sie, bevor Ihr hereinkommt.«
    Der große Mann griff wieder nach dem Tor und stieß es ein wenig zu, als wolle er mich ausschließen. Wenn er es ganz geschlossen hätte, dann wäre ich wohl mit meinem Pferd umgekehrt und davongaloppiert. Doch das tat er nicht.
    Ich blickte auf die in Metall geschlagene Inschrift: »Siehe, ich habe dich geläutert, aber nicht wie Silber; sondern ich habe dich geprüft im Glutofen des Elends« (Jesaja 48. 10).
    »Nun denn«, sagte ich. »Ich habe die Worte gelesen.«
    Das Tor bewegte sich wieder, um mich eintreten zu lassen. Danseuses Kopf stieß gegen meinen Arm, und sie klirrte mit dem Gebiß des Zaumzeugs.
    »Bitte folgt mir, Freund«, sagte der rothaarige

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