Zeit der Sinnlichkeit
Mann, der, wie ich jetzt bemerkte, über seinem schwarzen Rock und seinen Gamaschen einen Lederüberwurf trug. Letzterer war sehr fleckig und dunkel vom Gebrauch, wie ein abgenutzter Sattel. Ich blickte an meinen eigenen Sachen hinunter. Ich trug eine braune Samtkniehose und einen ebenfalls braunen Rock, der nur ein wenig in Karmesinrot eingefaßt war. Der Spitzenstoff an meinen Handgelenken und an meinem Hals hing schlaff herunter. Mein gesunder Menschenverstand sagte mir, daß diese Kleidungsstücke, trotz ihrer relativen Bescheidenheit, für die Tage, die vor mir lagen, nicht robust genug waren.
Ich trat ein, zog mein Pferd hinter mir her, und das Tor schloß sich hinter uns wieder.
Wir standen in einer Art Hof mit einem Schlackenboden, der viele Moosflecken hatte. In seiner Mitte wuchs ein einzelner Baum, eine Eiche.
»Diesen«, sagte der Mann in dem Überwurf, »nennen wir den Freilufthof. Wir glauben an die heilende Kraft der Luft.«
»Hier geht man spazieren?«
»Ja. Um den Baum herum, und dann wieder um ihn herum und so fort, rundherum und rundherum, doch der Baum ist nicht eintönig. Es ist ein überaus ruheloser und veränderlicher Baum. Seht Ihr?«
»Ja. Und nun ist der Frühling –«
»Mein Name ist Ambrose Dyer. Das hätte ich zuerst erwähnen sollen, denn Namen sind bei uns wichtig.«
»Ich freue mich, Euch kennenzulernen, Mister Dyer.«
»Und Eurer?«
»Wie bitte?«
»Euer Name?«
»Ach so. Robert Merivel. Pearce und ich waren als Medizinstudenten zusammen in Cambridge.«
»John. Wir nennen ihn nicht Pearce. Er ist John. Und ich bin Ambrose.«
»Ich glaube, für mich wird er immer Pearce sein. Und er wiederum nennt mich Merivel.«
»Hier ist er John.«
»Dann muß ich Robert sein?«
»Und ich bin Ambrose. Nun will ich Euch sagen, wie unsere Gebäude heißen. Das Haus selbst nennen wir Whittlesea House, und dort haben wir, die Gründer und Betreuer – wir sind sechs –, unsere Räume, und dort essen wir auch zusammen. Und die drei Scheunen oder asiles , was Zufluchtsort bedeutet, werden George Fox, Margaret Fell und William Harvey genannt.«
Trotz meiner Beklemmung mußte ich innerlich lächeln. Sogar hier, an diesem einsamen Ort mit nur der einen Eiche, hatte Pearce an seinen Mentor gedacht, denn natürlich nahm er den großen WH in seinem kreisenden Blut überallhin mit.
»Welche Scheune wird William Harvey genannt?« erkundigte ich mich.
»Die kleinste«, erwiderte Ambrose, »links von uns, hier. Dorthin werden die schwer Geistesgestörten gebracht.«
In diesem Augenblick, als wir uns dem Haus näherten, kam Pearce heraus. Als er aufsah und mich erblickte, schien er wie ein Fisch nach Luft zu schnappen. Und dann, genau wie ich es vorhergesehen hatte, kam er stolpernd auf mich zu gerannt.
In jener Nacht schlief ich in Pearces Bett, und Pearce lag, nicht weit von mir entfernt, auf dem Boden auf einem Stroh
sack. Doch mein Geist schien einen noch viel seltsameren Raum zu bewohnen, so daß ich nicht das Gefühl hatte zu schlafen, sondern nur in kurzzeitige, sonderbare, traumähnliche Trancezustände zu fallen. Jedesmal, wenn ich mich dem Schlafe nahe wähnte, hörte ich das Echo der Stimme des Königs, die immer wieder dieselben Worte sagte: »Ich will dich läutern, Merivel. Siehe, ich will dich läutern. Aber nicht wie Silber. Nicht wie Silber …«
ZWEITER TEIL
Robert
E in Monat ist vergangen. Es ist jetzt April. Und mir kommt es vor, als wäre ich in diesem Monat, der seit meiner Ankunft im Whittlesea Hospital verstrichen ist, von mir selbst fern gewesen. Doch heute morgen, als ich mein Spiegelbild im Fenster unserer Wohnstube sah, erblickte ich ihn wieder einmal, den Mann, den Ihr inzwischen nur allzugut kennt und von dem ich Euch sagte, Ihr sollt ihn Euch in einem scharlachroten Anzug vorstellen: den Narren Merivel. Ich konnte nicht verhindern, daß mir eine sentimentale Zärtlichkeit für Merivel über die Haut kroch, so daß ich aus Zuneigung und Scham errötete. Nur wegen dieser Zärtlichkeit fahre ich mit meiner Geschichte fort, ungeachtet der bestürzenden Tatsache, daß ich beim Durchschreiten des Tores zum New Bedlam von einem Leben in ein anderes getreten bin, so daß in gewisser Hinsicht ein Ende erreicht ist. Unter das Folgende könnt Ihr einen Schlußstrich ziehen: mein Haus in Bidnold, die Farben des Parks, Celias Gesicht an meiner Tafel. Weder Ihr noch ich werden das je wiedersehen. All dies ist aufgezehrt worden, nicht von wirklichen Flammen wie
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