Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
gehört habe, zu beschimpfen. Ambrose wies die Männer an, ihre Strohsäcke zusammenzurollen, ihre Nachteimer zur Latrine zu bringen und die Tische fürs Frühstück aufzubocken. Ich weiß jetzt, daß der Ablauf an jedem Morgen der gleiche ist, doch Ambrose gab seine Anweisungen mit so viel Begeisterung, als verkünde er eine freudige Neuigkeit. Und wirklich begann, als Ambrose fertig war, ein alter Mann, um dessen dürre Gliedmaßen eine Menge Verbandsstoff gewickelt war, zu applaudieren. Ambrose nickte ihm zu und lächelte. Dann sagte er: »Und ich will euch nun sagen, daß Whittlesea großes Glück widerfahren ist. Schaut her, das hier ist Robert. Er ist von Norfolk gekommen, um uns allen bei unserer Arbeit für den Herrn zu helfen. Sprecht euch den Namen vor. Sagt Robert. Und haltet den Namen in Ehren. Denn er ist euer Freund.«
    Die ganze Gruppe fing nun an, meinen Namen wieder und wieder zu murmeln, was mich in Verlegenheit versetzte. Fast alle sprachen ihn sich vor, außer einem Mann, der einen kleinen, durchdringenden Laut ausstieß, der dem Schrei eines Kiebitzes sehr ähnlich war. Ich wußte nicht, welche Worte von mir erwartet wurden, deshalb sagte ich nichts, sondern machte nur eine kleine Verbeugung, wie ich sie während meiner Tage in Whitehall vor dem Spiegel eingeübt hatte. Daraufhin folgte ich Ambrose hinaus, und wir liefen durch den Regen zum Margaret Fell.
    Dort trafen wir auf Hannah und Eleanor. Die Strohsäcke waren zusammengerollt und zur Seite gelegt, die Nachteimer entleert, und es standen Schüsseln mit kaltem Wasser da, in denen die Frauen vom Margaret Fell sich nun mit einer schwärzlichen Seife Gesicht und Hände wuschen. Es waren vielleicht fünfunddreißig Frauen jeden Alters, die jüngste nicht älter als zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre.
    »Sag«, flüsterte ich Ambrose zu, als mir die Wollkämme und Spinnräder gezeigt wurden, mit denen die Frauen ein graues, klumpiges Garn herstellten, aus dem Mops gefertigt wurden, »wodurch werden so junge Menschen in den Wahnsinn getrieben?«
    »Da gibt es viele Möglichkeiten, Robert«, antwortete er. »Der Wahnsinn hängt eng mit dem Unglück zusammen, nicht so sehr mit dem Alter. Die Armut ist eine der Hauptursachen. Verlassenwerden eine andere. Wir haben hier eine, Katharine, die von ihrem jungen Ehemann mitten in der Nacht verlassen worden ist, und nun schläft sie nicht, kann sie nicht mehr schlafen, und ihr Wahnsinn geht auf die Erschöpfung ihres Verstandes und Körpers zurück.«
    »Welche ist Katharine?«
    »Die dort, die sich gerade den Hals wäscht. Die mit den zerrissenen Kleidern. Damit beschäftigt sie sich in der Nacht: Sie sitzt da und zerreißt alles, was wir ihr zum Anziehen geben, in Fetzen.«
    Ich sah zu ihr hin. Sie war eine große, dünne junge Frau mit schwarzem Haar, das ihr zottig bis zur Taille hing, und schwarzen Augen, die mich an die des Reifrocks erinnerten, doch waren sie größer und trauriger und wegen ihrer Schlaflosigkeit von tiefen, dunklen Ringen umgeben.
    »Dafür gibt es Heilmittel«, sagte ich, da mir eingefallen
war, daß Pearce in Cambridge immer Malvenwurzeln und Endivien gekaut hatte, um sein Gehirn zur Ruhe zu bringen.
    »Ja«, sagte Ambrose, »und wir probieren sie bei Katharine aus; manchmal schläft sie dann auch eine Stunde oder etwas länger, doch dann bekommt sie keine Luft mehr und wacht wieder auf. Sie hat das Gefühl zu ersticken und erzählt uns, daß sie von einer schweren Last auf ihrem Kopf niedergedrückt wird.«
    Der Zustand dieser Frau ging mir nahe, und als Ambrose wieder von den Insassen verlangte, daß sie sich meinen Namen einprägten und vorsagten, wunderte ich mich über die Bedeutung, die das Wort »Schlaf« für mich gewonnen hatte. Ich war sicher, daß einmal der Tag kommen würde, an dem ich meinen Kasten mit den chirurgischen Instrumenten mit den Silbergriffen öffnen mußte und in meiner ungeübten Hand das Skalpell mit den Worten Schlaft nicht halten würde. Damit, daß ich mir erlaubt hatte, Robert zu werden, hatte ich bestimmt dem ein Ende gesetzt, was der König meine »Zeit des Träumens« genannt hatte. In meinem jetzigen Wachzustand würde nun vieles, was ich nur zu gern vergessen oder außer acht gelassen hätte, wieder schrecklich sichtbar für mich werden. Warum mußte mir gleich am allerersten Tage eine Frau über den Weg laufen, die überhaupt nicht mehr schlief und die von ihrem schlaflosen Starren – einem fortwährenden, nicht gewollten Wachen all die

Weitere Kostenlose Bücher