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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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meine lieben Eltern, sondern vom Feuer des königlichen Unwillens. Ich muß es mir daher so vorstellen, daß diese Dinge zu Asche verbrannt sind, und Ihr müßt das auch, denn Ihr werdet dorthin nicht zurückgeführt werden.
    Ich bin Robert geworden.
    Niemand im Whittlesea (selbst Pearce nicht, den ich mit John anreden muß) nennt mich Merivel, und viele wissen gar nicht, daß ich so heiße. Ich bin nicht einmal Sir Robert. Ich
bin einfach Robert. Und so könnte Eure Vorstellung von mir jetzt sein: Ich trage keine Perücke, außer bei Zusammenkünften (das sind sehr seltsame, aber bewegende Ereignisse, die ich später noch beschreiben werde), ich gehe meiner Arbeit in einer schwarzen, wollenen Kniehose und einem ebenfalls schwarzen, wollenen Hemd nach, das ein quälendes Jucken auf meinen Brustwarzen verursacht. Diese Kleidungsstücke werden von einer Lederschürze bedeckt, die sehr schwer ist und bis zu den Knien reicht. Meine aus kräftigem Leder gefertigten Stiefel haben niedrige Absätze und sind immer vom Schlamm von Whittlesea verdreckt, der keine Ähnlichkeit mit irgendeinem Schlamm hat, den ich je gesehen habe, sondern schwärzlich und schmierig ist und zu einer schwefelgelben Kruste antrocknet – wenn er überhaupt trocknet. Mein Bauch, der von Cattleburys Karbonaden und Süßspeisen dick geworden war, schrumpft zusehends bei der armseligen Kost aus Heringen, gewürztem und gesüßtem Weizenbrei, Gemüsebrei und Wasser, die Pearce, Ambrose und die anderen Quäker bevorzugen. Selbst als Kind war ich ein guter Esser, und die Kargheit des Essens, mit der ich mich hier abfinden muß, macht mir sehr zu schaffen. In den Pappeln vor dem Tor der Anstalt sitzen zwei Tauben, und ich würde nur zu gern ihre dicken, gebratenen Brüste vor mir auf einem Teller liegen sehen. Doch solche Gedanken muß ich beiseite schieben, ebenso wie das (fast ständige) Sehnen, Danseuse zu satteln und wegzureiten. Denn wohin sollte ich reiten? Alle Wege außerhalb dieses Ortes führen zum König zurück. Diese Einsicht habe ich wenigstens gewonnen. Und so bleibe ich, ohne jede Zukunftsaussichten.
    Mir werden Arbeiten zugeteilt, die fast alle untergeordneter, abstoßender Natur und mit einem üblen Geruch verbun
den sind. Doch ich führe sie aus. Die Tage, die ich fürchte, sind die, an denen ich im William Harvey arbeiten muß. Mit der Tür zum William Harvey öffnet man das Tor zur Hölle. Als ich gestern dort war, biß sich eine Frau, die ich gerade hochhob, um ihr frisches Stroh in die Box zu legen, die Zungenspitze ab, und mir spritzte ihr Blut in die Augen, was sich wie das Züngeln einer Flamme anfühlte, und ich glaubte mich vom Wahnsinn angesteckt. Das Haus trägt seinen Namen zu Recht. Es gibt darin jede Menge Blut. Das Blut steht in Pfützen auf dem Boden.
    Es gibt viele Regeln, an die wir uns im Whittlesea halten müssen. Eine von ihnen verbietet es jedem der »betreuenden Freunde« (so wunderlich nennt sich die kleine Gruppe Helfer in dieser Anstalt), allein, aus was für Gründen auch immer, sei es bei Tage oder bei Nacht, ins William Harvey zu gehen. So war, als mir die abgebissene Zungenspitze vor die Füße fiel und das Blut über mich spritzte, sofort einer der Freunde an meiner Seite. Es war Eleanor, die jüngere von zwei Schwestern – Eleanor und Hannah –, beides sehr liebe und vernünftige Frauen. Sie hob die Zungenspitze auf, wickelte sie in ihr Taschentuch, und Pearce nähte sie dann mit bewundernswerter innerer Stärke gleich wieder an. Doch dabei will ich lieber nicht verweilen. Statt dessen will ich Euch ein wenig über diese Schwestern und über die anderen Freunde dieser kleinen Gruppe erzählen, die hier hundert verrückte Seelen betreuen.
    Das Whittlesea Hospital ist vor zwei Jahren von Ambrose und Edmund gegründet worden. Der erste Insasse war Ambroses Großvater, ein alter Seefahrer, der durch spanische Piraten ein Auge verloren hatte und der, als der König zurückkam, von sich selber glaubte, schon gestorben zu sein. Er lebt
recht zufrieden im George Fox. Er hat ein Glasauge, das er in einem Holzkasten aufbewahrt, und erklärt täglich, daß er sich das Grab dunkler und stiller vorgestellt habe und daß er sehr froh sei, darin Gesellschaft zu haben.
    Ambrose – das hatte ich schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm am Tor festgestellt – ist von kräftiger Statur, starrsinnig, freundlich und sehr widerstandsfähig, wie eine Pflanze mit vielen kräftigen Wurzeln, die unempfindlich ist gegen

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