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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich sah, wie dein Leben in diesem schrecklich luxuriösen Haus war«, sagte er, »betete ich darum, daß du aus ihm herausgeholt werden würdest.«
    »Aber Pearce, ich hing an diesem Haus!« hielt ich es für nötig, ihn zu erinnern.
    »John«, sagte er.
    »Wie, Pearce?«
    »Bitte, sei so gut und nenne mich John.«
    »Aber ich finde das nun mal schwierig, nach all der Zeit.«
    »Du findest alles schwierig, was einfach und gut ist, Robert. Das ist das Problem mit dir.«
    Diese Unterhaltung fand in Pearces Zimmer spät an jenem Abend statt, an dem ich im Whittlesea angekommen war; ich ruhte meinen vom Winde gerüttelten Körper auf seinem engen Bett aus, und er lag auf einem Strohsack (wie er von den Bewohnern des George Fox und Margaret Fell benutzt wird) auf dem Boden. Ich blickte ihn an – meinen Freund und meine Zuflucht! Er ist dünner denn je, so daß die Knochen seiner Handgelenke Elfenbeinspulen gleichen. Er leidet in dieser tiefliegenden Gegend an einem heftigen Katarrh, der Speichelbläschen aus seinen Mundwinkeln bersten läßt und seine Nebenhöhlen so verstopft hat, daß seine Stimme klingt, als käme sie aus der Nase. Diesen Katarrh behandelt er mit einem Gegengift, das nun wiederum seine Augen entzündet hat. Alles in allem ist er ein jämmerlicher Anblick.
    Wenn die Quäker auch keine Predigten mögen, so hielt Pearce, auf seiner Strohmatratze liegend und sich Gegengift in die Nasenlöcher träufelnd, doch voller Ernst einen Sermon über die Hinterlist der Stuart-Könige. »Keiner von ihnen hat je das Vertrauen des Volkes verdient«, sagte er, »und keiner von ihnen wird es je verdienen. Denn das Wohl des Volkes steht bei ihnen nie an erster Stelle. An erster Stelle steht ihre angebliche Gottähnlichkeit, die sie außerhalb des Gesetzes oder darüber stellt, so daß sie bei allem, was sie tun, niemandem Rechenschaft schuldig sind, weder in ihrem öffentlichen noch in ihrem privaten Leben …«
    Während ich dieser Moralpredigt lauschte, stellte ich fest,
daß ich nicht über seine Worte und deren Richtigkeit nachdachte, sondern über die Tatsache, daß ich selbst bei der ganzen katastrophalen Angelegenheit überhaupt keinen Zorn empfand. Verletzt, enttäuscht, ängstlich, melancholisch: All das war ich. Doch ärgerlich schien ich nicht zu sein. So enthielt ich mich jeder Stellungnahme zu Pearces Schmährede gegen die Stuarts und platzte einfach heraus: »Warum fühle ich keinen Ärger, Pearce?«
    »John.«
    »John. Warum fühle ich keinen Ärger, John?«
    »Weil du ein Kind bist.«
    »Wie bitte?«
    »Ein Kind, das von selbstsüchtigen Eltern bestraft wird, empfindet keinen Ärger. Es zieht sich in sein Eckchen zurück und weint. Genauso wie du es getan hast. Und sobald die Eltern wieder ihre Arme ausbreiten, kommt das Kind angerannt und wirft sich hinein, froh darüber, wieder zurückkehren zu dürfen und Vergebung erlangt zu haben für etwas, das es doch nur als Antwort auf ihre Gier getan hatte.«
    »Aber Pearce –«
    »Genauso wie du hinrennen würdest, wenn der König dich zurückriefe!«
    »Er wird mich nicht zurückrufen. Das ist ganz und gar vorbei.«
    »Nein. Sollte er es dennoch tun, dann würdest du gehen. Und daher liegt es für mich klar auf der Hand, daß du noch ein Kind bist, Robert. Doch zu deinem Glück hat dich deine Obdachlosigkeit nach Whittlesea gebracht. Unsere Aufgabe hier ist es nun, dich von deinem kindischen Verhalten zu heilen, genauso wie wir versuchen, die Geisteskranken von ihrem Wahnsinn zu heilen. Denn der Mann in dir könnte ganz
wunderbar sein, Robert. Ich sah, wie sich dieser Mann formte – ehe du dich zum Kind zurückentwickeltest –, und diesen Mann wollen wir wiederherstellen.«
    Ich blickte auf Pearce hinunter. Als ich sah, daß er neben sich auf den Boden, in Reichweite seiner Leichenfinger, seine kostbare Suppenkelle gelegt hatte, mußte ich lächeln.
     
    Nach jener ersten Nacht mußte ich feststellen, daß Pearce nicht daran interessiert war, mit mir über mein vergangenes Leben oder dessen Verlust zu sprechen. Er wollte, daß ich es so schnell wie möglich aus meinem Denken verbannte, und so wurde vom nächsten Tage an (in dessen Verlauf ich die triste Kleidung bekam, die ich Euch schon beschrieben habe) von mir erwartet, daß ich mich an der Arbeit der Betreuer beteiligte, so, als wäre ich einer von ihnen und ein geborener Quäker. »Robert ist gut geeignet, uns zu helfen«, erklärte Pearce bei unserem frühen Frühstück, das aus einem Wasserbrei

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