Zeit der Sinnlichkeit
bevor sie erstickte und starb. Aber wir können nicht das Risiko eingehen, daß sie so etwas noch einmal macht, deshalb haben wir sie vorübergehend im William Harvey untergebracht.«
Die Stille in der Küche wurde nur durch das Schaben von Daniels Messer auf den Kartoffeln aus Pearces Anbau unterbrochen. Ich wollte sprechen, spürte aber ein starkes Würgen in der Kehle. Was ich da gerade über den einen Menschen hören mußte, dem ich zu helfen geglaubt hatte, schockierte mich dermaßen, daß ich kein Wort herausbrachte. Und es kam noch schlimmer: Auf Ambroses Frage, warum sie sich habe töten wollen, hatte Katharine schlicht geantwortet: »Weil Robert mich verlassen hat. Er ist davongeritten.«
An diesem Abend ging ich nach dem Essen, als die anderen für die Zusammenkunft zusammenkamen, ins Margaret Fell und holte von Katharines Platz die Puppe, die sie Jesus von Bethlehem nannte. Dann ging ich ins William Harvey, womit ich die Vorschrift verletzte, daß kein Betreuer es allein betreten durfte, und fand dort Katharine, die mit einem Fuß an die Wand gekettet war. Sie schlief. Man hatte ihr zur Be
ruhigung Laudanum gegeben, was ich an ihrem Atem riechen konnte. Ich legte die Puppe neben sie ins Stroh und ging schnell weg.
Eine Tarantella
I n dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Als es fast ein Uhr war, stand ich auf und machte eine Lampe an, da ich der Dunkelheit plötzlich sehr überdrüssig war. In dem gelben Lichtschein untersuchte ich dann meine Hände, was ich manchmal tue, wenn ich Kummer habe; folglich kenne ich meine Hände außergewöhnlich gut. Meine Finger sind breit und rot, die Fingerspitzen sehr flach mit ebenso flachen Nägeln. Meine Handinnenflächen sind feucht und heiß. Auf meinen Handrücken habe ich ein paar Haare und Sommersprossen. Es sind Merivels Hände, nicht Roberts, doch sie zittern nicht und weichen nicht vom Wege ab, wenn sie das Skalpell halten.
Ich war nicht an der Reihe mit der Nachtbetreuung, doch als ich um zwei Uhr hörte, wie Ambrose und Edmund aufstanden, zog ich Kniehose und Stiefel an und ging mit ihnen. Auf dem Weg zum William Harvey (ich hoffte, Katharine dort wach anzutreffen, so daß sie mich sehen würde und wüßte, daß ich sie nicht verlassen hatte) flüsterte mir Ambrose zu: »Leider ist ein kranker Geist leichter das Opfer heftiger Gemütsbewegungen als ein gesunder.«
Ich lächelte. »Das weiß ich wohl, Ambrose«, sagte ich.
»Wohingegen«, fuhr Ambrose fort, »der wahre Heilige alle Menschen liebt und nicht einen im besonderen. Und wir, die Betreuer im Whittlesea, haben den Schwur abgelegt, der Liebe der Heiligen nachzueifern.«
Weiter sagte er nichts, sondern schritt nur schnell weiter, doch ich wußte, daß dies ein Vorwurf gewesen war. Ich wand
te mich Edmund zu, der noch im Gleichschritt mit mir lief. »Es war Mitleid mit Katharine, mit ihrem Zustand – der einige unbeantwortete Fragen in meinem eigenen Leben berührt –, was mich dazu bewogen hat, ihr zu helfen, Edmund«, sagte ich. »Ich gab ihr keine Liebesversprechen und wollte auch keine von ihr.«
»Ich glaube dir, Robert.«
»Aber wir können doch nicht, jeder für sich, allen helfen …«
»Obwohl wir genau das versuchen müssen.«
»Und ich glaubte, wenn ich wenigstens einem Menschen helfen könnte …«
»Was hast du geglaubt?«
»Daß ich mich dann endlich nützlich fühlen würde.«
»Nützlich?«
»Ja.«
»Und warum glaubtest du, noch nicht nützlich zu sein?«
»Weil … es mir einmal gesagt worden ist.«
»Von wem?«
»Von wem ist nicht von Bedeutung. Daß ich ihm glaubte, ist, was für mich zählt.«
»Aber das sollte dich doch jetzt nicht bekümmern, Robert. Du bist fürs Whittlesea nützlich. Nur würde ich dir raten, dich von nun an von Katharine fernzuhalten.«
»Und doch …«
»Ambrose würde sagen, es gibt kein ›und doch‹.«
»Ich war bei ihr so nahe an einer Heilung!«
»Das ist vielleicht ein wenig anmaßend. Heilungen zu vollbringen ist uns nicht gegeben, Robert. Jesus allein kann heilen. Wir sind nur seine Vertreter.«
Wir waren mittlerweile am William Harvey angelangt;
Ambrose war schon hineingegangen. Wenn ich jetzt auch mit diesem elenden Ort vertraut bin, so hat sich doch mein Widerwille gegen ihn nicht verringert. Piebald weiß, wie sehr ich ihn fürchte, und spielt gern mit meiner Angst. »Verschlingt er dich?« fragt er. »Ist er nicht wie das Grab für deine kleine Seele?«
Glücklicherweise schlief er in dieser Nacht, mit dem
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