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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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letzten Mal unbekleidet gesehen hatte: Das war bei der Nachtwache an
seinem Bett im Olivenzimmer auf Bidnold gewesen. Damals war er so dünn wie immer schon als junger Mann gewesen, doch jetzt war die Veränderung in seinem Aussehen so erschreckend, daß man es nicht in Worte fassen konnte, denn er war das reinste Skelett: Die Brust war eingefallen, und man konnte jede einzelne Rippe sehen; er schien überhaupt nirgends an seinem Körper noch weiches, warmes Fleisch zu haben, vielmehr schienen seine Knochen nur von seiner weißen Haut zusammengehalten zu werden.
    »Pearce …«, stammelte ich und vergaß in dem Schock, den sein Anblick bei mir ausgelöst hatte, seine ständige, dringliche Bitte, ihn John zu nennen.
    »Ja«, sagte er, »ich weiß. Ich bin ein bißchen dünn geworden.«
    »Ein bißchen!« platzte ich heraus. »Was ist mit dir geschehen? Hast du gefastet?«
    »Nein, ich esse, was mir vorgesetzt wird. Ich weiß nicht, warum ich so abgenommen habe.«
    »Leg dich hin!« schnauzte ich ihn an.
    Pearce trennte sich von seinem Bündel und legte sich gehorsam auf den Rücken auf sein Bett. Ich brachte die beiden Lampen so nah wie möglich heran und sah auf ihn hinunter; am liebsten hätte ich diesem Dickschädel einen Puff dafür versetzt, daß er seinem Körper erlaubt hatte, unbemerkt von uns allen unter seinen weiten Kleidern dermaßen dahinzuschwinden.
    Ich griff nach seinem Handgelenk und fühlte seinen Puls. Ich war erleichtert, diesen recht kräftig vorzufinden. Dann beugte ich mich hinunter, legte meinen Kopf auf seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag.
    »Du solltest die Lunge abhorchen«, sagte Pearce.
    »Ich weiß«, sagte ich verärgert. »Atme tief ein und so langsam wie möglich wieder aus.«
    Sein Atemholen war nicht gleichmäßig. Es hatte etwas Krampfartiges, als sei ein Schluchzen in seinem Körper.
    »Atme wieder ein und dann langsam weiter, bis ich dir sage, daß es reicht«, wies ich ihn an.
    Ich hörte ihn einige Minuten ab, wobei ich meine Abhörposition nach jedem zweiten Atemzug ein wenig veränderte; dann bat ich Pearce, sich umzudrehen, und legte mein Ohr auf seinen Rücken – ein recht erbärmlicher Körperteil beim Mann, oft voller Pickel –, und alles, was ich hörte, machte mir angst, denn es konnte für mich kein Zweifel daran bestehen, daß die Lungen in Not waren, da sie voll von schleimigem Sekret waren, das, wenn man es nicht herausbrachte, mit der Zeit das gesamte Lungengewebe erfassen und dem Leidenden einen grausamen Tod, ähnlich einem langsamen Ertrinken, bringen würde.
    »Es ist ein gefährlicher Stau in der Lunge, nicht wahr?« fragte Pearce, als er sich aufsetzte und sich die Augen rieb, die ihm, wie ich jetzt sah, vor Müdigkeit fast zufielen.
    »Ja«, sagte ich.
    »Und der Schweiß und die Kälte auf meinem Kopf?«
    »Wahrscheinlich eine wohltuende Ausscheidung. Damit versucht das Zeug herauszukommen.«
    »Und wenn es nicht herauskommt?«
    »Wir werden es herausholen. Aber du brauchst Ruhe, Pearce.«
    »John.«
    »Nun gut, John! Aber du wirst keiner von beiden mehr sein, und kein Name wird noch irgendeine Rolle spielen, wenn du zuläßt, daß du stirbst!«
    »Ich kann nicht im Bett bleiben, Robert, bei der vielen Arbeit hier.«
    »Du mußt im Bett bleiben, damit du die Wirkung der Heilmittel, die ich dir verschreiben will, unterstützt und nicht gegen sie arbeitest.«
    »Nein, ich kann es wirklich nicht. Ambrose und die anderen dürfen es nicht erfahren.«
    »Pearce«, sagte ich verärgert, »jetzt verliere ich die Geduld! Habe ich dir nicht schon hundertmal gehorcht, wenn du über mich bestimmt hast und der Kluge warst? Habe ich nicht immer getan, was du wolltest? Ja, das habe ich! So versuche jetzt bitte gar nicht erst, mir in diesem Fall zu widersprechen. Denn ich bin fest entschlossen durchzusetzen, daß du dich dies eine Mal an meine Anweisung hältst, und die lautet, daß du hier im Bett bleibst und für dich sorgen läßt und dich nicht aus deinem Zimmer begibst, bevor es dir wieder gutgeht. Und wenn du das nicht tust, John, dann bist du nicht mehr mein Freund und auch fürs Whittlesea kein wahrer Freund mehr. Dann schaufelst du dir dein eigenes Grab!«
    Pearce ließ es daraufhin zu, daß sein Kopf auf das Kissen zurückfiel, und nickte. »Na gut«, sagte er, »aber nur für kurze Zeit. Was verschreibst du mir?«
    »Rosensirup, um dein Blut zu erwärmen und deinen Husten zu beruhigen. Und einen Kletten- oder Brotwickel für deinen Kopf.«
    »Und

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