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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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gebe, die einen, die durch die Beschäftigungen des Tages ausgelöst wurden, die anderen, die das Einflüstern des Satans darstellten, und die dritten, die ein wirkliches Gespräch zwischen Gott und dem Menschen waren.
    Da ich immer noch von Träumen aus meiner Vergangenheit geplagt wurde, genaugenommen von Träumen von Celia und natürlich vom König, fragte ich mich jetzt im stillen, in welche Kategorie diese Träume wohl fielen, so daß ich eine Zeitlang den Faden des Gesprächs verlor. Als sich meine Gedanken wieder der Zusammenkunft zuwandten, mußte ich feststellen, daß die Diskussion inzwischen sehr leidenschaftlich geworden war. Jetzt weinte nicht nur Edmund, sondern auch Hannah, und Eleanor kniete mit ihrer Bibel in der Hand am Boden und erklärte uns allen, daß das Lesen des Buches der Bücher wie das Betreten eines Gotteshauses sei und daß man sich, wenn man anfing, die Apostel zu lesen, so fühle, als strecke sich einem eine Hand einladend entgegen und böte einem Nahrung an, »so wie wir einem Freund, der uns besucht, Kuchen oder eine Suppe anbieten«.
    Edmund schien dieser Hinweis, daß er versuchen konnte, Gott, wenn er ihn auf unerklärliche Weise verloren hatte, in
der Heiligen Schrift wiederzufinden, ein wenig aufzuheitern und zu trösten. Ich dachte, daß diese Zusammenkunft nun enden könnte, aber Eleanor wollte, daß jeder von uns fünf oder zehn Minuten lang im Evangelium nach einem Bibelspruch suchen solle, der für ihn schon einmal besonders trostreich gewesen sei und es vielleicht auch für immer sein würde. Und so holte jeder seine Bibel hervor, und wir saßen in unserem Halbkreis beisammen und lasen ein wenig im Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Alle Quäker, einschließlich Edmund, fanden Passagen, die zu dem, was während der Zusammenkunft geschehen war, sehr gut paßten, über Jesus, der besonders die Armen und Unschuldigen liebte und gesagt hatte: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid« und »Lasset die Kinder zu mir kommen« und so weiter. Als ich dann an die Reihe kam, wählte ich den Spruch aus Lukas, Kapitel 2, der die starke Furcht einiger Hirten beim Anblick des Engels des Herrn beschreibt: »Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr …«
    Ich weiß nicht genau, warum ich gerade diesen Bibelspruch auswählte, wahrscheinlich, weil ich ihn schon mein ganzes Leben lang auswendig kannte und Edmund zu verstehen geben wollte, daß Gott uns bestimmt ebensooft angst macht und uns die Einsamkeit fühlen läßt, wie er uns tröstet. Eine solche Furcht kann, wie im Falle der Hirten, eine Vorbereitung zu einer wichtigen Offenbarung sein, manchmal ist sie es aber auch nicht. In meinem eigenen Fall handelt es sich gewöhnlich um Angst vor Leiden und vor dem Tod, und sie bereitet gar nichts vor.
     
    Ich wünschte allen Betreuern eine gute Nacht. Dann ging ich zu meinem Wäscheschrank, zündete meine Lampe an und nahm sie mit zu Pearces Zimmer, damit wir im Schein von zwei Lampen arbeiten konnten. Außerdem nahm ich mein Chirurgiebesteck mit, das ich gerade erst sorgfältig gereinigt hatte; sogar die Silbergriffe hatte ich poliert.
    Als sich Pearce auf sein schmales Bett setzte, sagte ich: »Ich möchte wetten, daß du eine Sommererkältung hast, und das ist alles.«
    »Nein«, sagte Pearce. »Ich habe schon öfter Erkältungen gehabt, doch das ist keine.«
    »Nun, wir werden sehen …«
    Zuerst nahm ich einen Zungenlöffel und schaute Pearce in den Hals, der nicht entzündet zu sein schien, doch bemerkte ich, daß seine Zunge ein wenig geschwollen und belegt und sein Atem übelriechend war. Dann untersuchte ich seinen Hals auf Schwellungen, fand aber keine. Daraufhin legte ich meine Hand, geführt von der seinen, auf seinem Kopf dorthin, wo er dieses Kältegefühl hatte, und spürte durch sein sich lichtendes Haar Feuchtigkeit, als ob er dort schwitzte.
    Nachdem das erledigt war, bat ich ihn, seinen Rock und sein Hemd auszuziehen und sich aufs Bett zu legen, so daß ich sein Herz und seine Lunge abhorchen konnte.
    Während er sich auszog, machte ich mir Notizen über die seltsame Feuchtigkeit auf seinem Kopf, deren Ursache mir noch ein Rätsel war. Dann sah ich auf.
    Pearce, der gerade sein Hemd zu einem Bündel zusammenfaltete, stand nun, nur mit seiner ausgefransten, schwarzen Kniehose und seinen Strümpfen bekleidet, vor mir. Ich überlegte, wann ich seine Arme und seine Brust zum

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