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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Brustwarzen.
    Ambrose berichtete über alles Abnorme, das er an ihr feststellen konnte, wie zum Beispiel eine rote, wunde Stelle an ihrem Nabel und einen blauen Fleck im Bereich des Brustbeins, und Pearce schrieb alles auf. Ich ging zu ihrem Kopf
und nahm den Kiefer in meine Hände, öffnete ihn und untersuchte die Zähne; diese waren schwarz und schlecht und stinkend vor Fäulnis, und dementsprechend berichtete ich Pearce über meinen Befund. Der Anblick des Körpers hatte mich so betroffen gemacht, daß ich es schließlich doch nicht lassen konnte zu sagen: »Erkennt Ihr nicht auch die schreckliche, aber unumstößliche Wahrheit, daß die Männer auf dieser Welt und in dieser Zeit auf vielerlei Weise ihr Glück machen können und viele Eisen im Feuer haben, Frauen aber nur eins, und das ist ihr Körper? Doch wenn dieser verbraucht ist, so sind sie alle, ob arm oder reich, von der Gnade irgendeines Aufsehers abhängig.«
    »In einem Quäkerhaus«, sagte Ambrose, »sind alle gleich vor Gott.«
    »Ich weiß«, antwortete ich, »aber nicht in der Gesellschaft. In der Gesellschaft erleiden alle Frauen, wenn sie vierzig werden, eine Verarmung irgendeiner Art.«
    »Aus diesem Grund und aus tausend anderen Gründen«, meinte Pearce, »haben wir uns von der Gesellschaft abgewandt. Weder Hannah noch Eleanor werden je ›arm‹ in dem von dir gemeinten Sinne sein.«
    »Nein«, kam von Ambrose das Echo, »das werden sie nicht.«
    »Deshalb sei froh, Robert, daß du hier bist und nicht dort, wo du früher warst.«
    Mit diesen Worten, denen er noch ein Schniefen hinzufügte, das wie ein ordentlicher Punkt am Ende eines Satzes wirkte, erklärte Pearce das Thema, das ich zur Sprache gebracht hatte, für abgeschlossen. Er hält viele meiner Äußerungen für reine Zeitverschwendung – »und wir haben nur eine bestimmte Spanne Zeit, Robert, und nicht mehr« –, und
hier handelte es sich ja wirklich um ein Abschweifen vom hauptsächlichen Ziel dieses Morgens, nämlich festzustellen, woran die alte Frau gestorben war.
    Keiner von uns hatte bei ihr etwas von einer Krankheit gemerkt, lediglich eine Hinfälligkeit, die sich mit dem Alter und den Zerstörungen durch ihren Wahnsinn eingestellt hatte. Doch als wir jetzt ihre Brust öffneten, stellten wir fest, daß das Herz ein verkrustetes und schorfiges Erscheinungsbild hatte und das Blut ihrer Arterien und Venen dunkel und klebrig wie Sirup war; und so brauchte Pearce nicht lange, um zu dem Schluß zu kommen, daß der Tod durch Stillstand des Herzens eingetreten war, da es das dickflüssige Blut nicht mehr hatte bewegen können. Ambrose und ich nickten zustimmend, und ich zumindest war erleichtert, daß wir nicht auch noch die Leber und Eingeweide untersuchen mußten. Da die Autopsie beendet war, ging Ambrose und überließ Pearce und mir das Zunähen des Einschnitts sowie das Reinigen und Einwickeln des Körpers für die Beerdigung. Ich nahm die chirurgische Nadel aus meinem Instrumentenkasten, und Pearce maß für mich ein Stück Darmsaite ab, als er plötzlich erklärte: »Ich habe Angst vor dem Tod, Robert.«
    Ich sah ihn überrascht an. Pearce hatte sich dem großen Thema Sterblichkeit gegenüber immer beneidenswert gleichgültig gezeigt. Als er einmal bei einem unserer Angelausflüge in der Nähe von Cambridge von einer kleinen Holzbrücke gefallen und beinahe im Unkraut ertrunken war, hatte er weder Todesangst noch mir gegenüber Dankbarkeit gezeigt, als ich ihm dadurch das Leben rettete, daß ich ihm einen Kescher zuwarf und ihn damit ans Ufer zog. Ich hatte immer geglaubt, daß er im Tod eine Art Belohnung für seine Tugend
und Enthaltsamkeit auf Erden sah und daß er sich bei seinem arbeitsreichen Leben manchmal sogar darauf freute.
    Als ich nun anfing, die Brust der toten Frau zuzunähen, sagte ich nur so viel zu ihm: »Ich hätte nicht gedacht, John, daß ausgerechnet du Angst davor haben würdest.« Er nickte und antwortete: »Bis vor kurzem hatte ich auch keine, aber seit etwa einem Monat – und das sage ich nur dir, Robert, und sonst niemandem, denn ich will die anderen nicht beunruhigen – habe ich an mir gewisse Symptome festgestellt, gewisse Symptome …«
    »Was für Symptome?«
    »Nun … dieser Katarrh …«
    »Das ist nichts weiter als ein Katarrh.«
    »Und ein kalter Schweiß auf meinem Scheitel …«
    »Das hängt mit der Erkältung zusammen, John.«
    »Und ein heftiges Husten und Würgen in der Nacht verbunden mit starken Schmerzen in der

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