Zeit der Sinnlichkeit
Lunge.«
»Schmerzen in der Lunge?«
»Ja.«
»Wie stark sind die Schmerzen?«
»Manchmal so stark, daß ich aufschreien möchte.«
Das Fleisch der toten Frau, das ich für das Nähen zwischen Daumen und Zeigefinger zusammengedrückt hielt, war eiskalt, und jetzt fühlte ich, wie sich eine kalte Furcht in mein Herz schlich.
Ich sah Pearce an. »Du meinst also, daß es dieser Schmerz in deiner Lunge ist, der dich an den Tod denken läßt?« fragte ich ihn.
»Ja. Denn er scheint nicht wegzugehen. Auch dieser kalte Schweiß auf meinem Kopf nicht, trotz des heißen Wetters.«
Ich sagte nichts. Ich beendete das Nähen, und Pearce und
ich wuschen gemeinsam die Frau, legten Flachsbäusche in die feuchten Körperöffnungen und wickelten sie in ein Leichentuch. Dann sagte ich: »Ich komme heute abend nach der Zusammenkunft in dein Zimmer, dann untersuche ich dich.«
»Danke, Robert«, sagte Pearce. »Und du erzählst niemandem etwas davon?«
»Nein. Ich erzähle niemandem etwas.«
»Danke. Denn sie sind so liebe Menschen, nicht wahr? Ich möchte nicht, daß sie um meinetwillen schlecht schlafen.«
Den ganzen Morgen hatten mich Gedanken an Katharine beunruhigt; meine Begierde nach ihr war von jener abscheulichen Art, in der das Gefühl des Abscheus eher erregend als abstoßend wirkt.
Doch jetzt, da ich gehört hatte, daß mein Freund krank war, fiel all das von mir ab, und ich wünschte mir nur noch, daß der Tag schon vorbei sein möge, damit ich Pearce untersuchen und seine und meine Ängste dadurch zerstreuen konnte, daß ich bei ihm ein Leiden feststellte, das bald wieder vergehen würde – und nichts weiter.
Doch an diesem Abend dauerte die Zusammenkunft länger als gewöhnlich. Nach ein paar Schweigeminuten stand Edmund auf und sagte, Gott möge ihm vergeben, was er jetzt sagen werde, er wisse auch, daß der Aufruhr, in dem er sich befinde, seiner unwürdig und kindisch sei, doch habe ihn etwas von großer Bedeutung mehr und mehr zu quälen begonnen, und zwar die Einsamkeit der Quäker.
Er hielt einen Augenblick inne. Niemand stellte ihm eine Frage, alle warteten schweigend auf das, was folgen würde. Er nahm nun aus seiner Tasche ein zerknülltes Pergament
papier und las die folgenden Worte vor: »Gott, der Herr, hat mich klar erkennen lassen, daß er nicht in Tempeln wohnt, die auf Geheiß von Menschen errichtet wurden, sondern in den Herzen der Menschen. Sowohl Stephanus als auch der Apostel Paul haben Zeugnis darüber abgelegt, daß er nicht in Tempeln gewohnt hat, die von Menschenhand erbaut worden sind, ja nicht einmal in dem Tempel, dessen Bau er selber angeordnet hatte, sondern daß sein Volk sein Tempel war und daß er in den Menschen lebte.«
Danach sagte er so bekümmert, daß sich seine Nagetieraugen mit Tränen zu füllen begannen: »So ist mir der Gedanke gekommen, nicht durch Gott, sondern durch einige sehr beängstigende Träume, daß es für jede Art von Andacht ein Kirchenhaus, einen Tempel, ein Heiligtum oder einen anderen Ort gibt, wo der Gläubige hingehen kann; er kann zum Haus Gottes wie ein Besucher gehen und dann dort, außerhalb seines eigenen Ichs, die Gegenwart Gottes, der ihn empfängt, fühlen. Doch für den Quäker gibt es keinen solchen Ort, und wenn er – wie ich in meinen Träumen – plötzlich gewahr wird, daß Gott nicht mehr in ihm wohnt, wo soll er dann hingehen, um ihn zu finden? Er kann nicht zum Haus Gottes gehen, denn er ist das Haus Gottes! Was soll er also tun? Bitte sagt mir, meine lieben Freunde, wie kann er seine Einsamkeit und Isoliertheit überwinden?«
Danach setzte sich Edmund wieder hin und wollte sich die Nase putzen, doch während er nach seinem Taschentuch suchte, fiel sein Pergamentpapier zu Boden, und aus irgendeinem Grunde rief dieses Loslassen von etwas, das für ihn wertvoll war, mehr noch als seine Angst oder Worte, in mir ein Gefühl starker Verbundenheit hervor, und ich wäre aufgestanden und hätte versucht, seine Frage zu beantworten,
wenn ich nur irgendeine Ahnung gehabt hätte, wie die Antwort lauten könnte.
Dann lag wieder Schweigen über uns, das nach ein paar Minuten von Ambrose unterbrochen wurde, der Edmund daran erinnerte, daß Fox uns davor gewarnt hatte, uns an Träume zu halten, und gesagt hatte, »wenn ihr nicht zwischen den Träumen unterscheiden könnt, dann werdet ihr alles zu einem Brei vermischen«. Womit ein Gespräch über Träume in Gang gesetzt wurde, das einige Zeit andauerte: daß es dreierlei Träume
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