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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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warten würde.«
    Wir gaben ihm Opiate, und als diese in sein Blut gelangten, schien er nicht in einen Schlaf, sondern in eine Art Traum von der Vergangenheit zu fallen, so daß er von seiner Mutter sprach, die zwanzig Jahre lang Witwe gewesen war und jeden Tag für die Seele ihres toten Mannes, eines Barbiers, gebetet hatte, der ihr nichts weiter hinterlassen hatte als sein
Handwerkszeug, mit dem sie sich dann, sobald ihr Sohn im Caius College aufgenommen worden war, die Kehle durchschnitt. Sie wurde nicht auf dem Friedhof neben ihrem Mann beigesetzt, sondern »an einer Kreuzung außerhalb des Dorfes, einem Ort, an dem die Leute zu Fuß, zu Pferd oder in Kutschen in die eine oder andere Richtung gingen, aber nicht anhielten«. Er sagte zu uns, daß wir, wenn wir seine Bibel bei Matthäus, Kapitel zehn, aufschlügen, »den Abdruck eines Vogels quer über der Schrift« finden würden. Er wüßte nicht mehr, was das für ein Vogel gewesen sei, nur, daß er klein war und daß er ihn gefunden hatte, »gerade erst gestorben, als ich noch ein Kind war und meine Mutter noch lebte«. Es schien ihm sehr viel daran zu liegen, daß wir diesen Abdruck sahen, also nahm ich seine Bibel und suchte danach und fand schließlich – nicht bei Matthäus, sondern über zwei Seiten bei Markus hinweg – einen braunen, fettigen Fleck, wie er entstehen konnte, wenn man aus Versehen einen heißen Zimtpfannkuchen auf die Bibel legte. Ich zeigte ihn Pearce. »Ist das der Abdruck, den du meinst, John?« fragte ich ihn. Er starrte darauf, seine erweiterten Pupillen hatten Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. »Ja«, sagte er schließlich. »Die inneren Organe hatte ich entfernt, um die Worte Christi nicht zu beschmutzen. Ich habe den Vogel hineingelegt, seine Flügel ausgebreitet und das Buch zugeklappt. Dann habe ich es beschwert und ihn gepreßt wie eine Blume.«
    Ich sah Hannah an, die auf der anderen Seite von Pearces Bett saß und seine Stirn von Zeit zu Zeit mit Lavendelwasser benetzte. Sie schüttelte den Kopf, womit sie mir andeuten wollte, daß sie die Geschichte vom gepreßten Vogel nicht glaubte; wir konnten beide nicht umhin, uns den Gestank
des toten Tieres vorzustellen, wie es sich in seinem Grab aus heiligen Worten zersetzte. Wäre es Pearce bessergegangen, dann hätte ich eine Bemerkung dahingehend gemacht, daß der Geruch des Todes bei einem Wirbeltier ganz und gar keine Ähnlichkeit mit dem bei einer Blume hat, doch war Pearce zu diesem Zeitpunkt schon so schwach, daß er kaum seinen Kopf von dem Kissen heben konnte, auf dem das, was von seinem dünnen Haar noch übriggeblieben war, allmählich ausfiel.
    In das Wissen, daß Pearce sterben würde, war ich während dieser zehn Tage gleichsam eingehüllt; ich trug es an mir, doch mein Verstand weigerte sich, es in sich aufzunehmen. Ich glaubte nicht, daß diese Weigerung darauf beruhte, daß Ambrose und ich uns der falschen Hoffnung hingaben, Pearce retten zu können. Vielmehr hatte ich verstanden, daß alles noch so sichere Wissen, daß ich meinen Freund verlieren würde, mich nicht ausreichend auf seinen tatsächlichen Verlust vorbereiten konnte.
     
    Am siebten oder achten Krankheitstag ließen die Schmerzen in seiner Brust und das Fieber vorübergehend nach. Er bat mich, ihn hochzuheben und ihm Kissen in den Rücken zu stopfen, »aber nicht solche mit Quasten und Juwelen oder so grellbunte, wie du sie in deinem Haus hattest«. Ich lächelte, legte ihm behutsam meine Hände unter die Achseln (wo überhaupt kein Fleisch mehr zu sein schien, sondern nur noch Haut) und zog ihn zu mir hin, während Daniel ein paar Kissen hinter seinen Rücken legte. Ich fragte ihn, ob er versuchen wolle, etwas Fleischbrühe zu trinken. Da er dies bejahte, ging Daniel hinunter, um welche zu holen (in diesem Haushalt ist immer eine Fleischbrühe da, sehr häufig
sieht man in der Küche Knochen mit Zwiebeln und Suppengrün vor sich hin kochen), so daß ich mit Pearce allein zurückblieb. Ich setzte mich neben ihn, gerade noch in Reichweite seines nach Schwefel riechenden Atems. Er fing an, ganz klar, wie damals auf Bidnold, über die Theorie der spontanen Entstehung zu sprechen, an die er niemals so richtig geglaubt habe, die aber durch das Vorhandensein der lebenden Made auf toter Materie bewiesen zu sein schien. »Ist es möglich, Merivel«, fragte er mich, »daß die Made nicht spontan erzeugt wird, sondern daß sie – auch das ist eine Hypothese – aus einem Ei entsteht, das so klein

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