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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Geschichtenerzählen und Tanzen vorgeschlagen hatte, und daher nahm ich an, daß gleich Worte aus mir heraussprudeln würden, doch ich wußte nicht, daß sie mir, sobald ich sie aussprach, etwas offenbaren würden, was ich bis dahin nicht verstanden hatte. Ich wollte aufstehen, doch da ich weiche Knie hatte, blieb ich sitzen und begann: »Ich habe
in der Stille, die heute morgen mit Johns Tod hereingebrochen ist, gelauscht und gewartet. Es war geradeso, als habe ich auf eine Mitteilung gewartet, nicht von John, auch nicht von Gott, sondern von mir an mich, und jetzt ist sie da …«
    Noch immer wußte ich nicht genau, was diese vermeintliche »Mitteilung« war und was ich als nächstes sagen würde. Ich schwieg eine Weile, holte ein Taschentuch hervor und wischte mir damit über die Stirn, dann sagte ich: »In dieser Stille habe ich eine Sache verstanden, und zwar die, daß all meine Liebe zu Frauen, die, bevor ich hierherkam, eine sehr stürmische und leidenschaftliche Angelegenheit gewesen ist, und selbst alle Liebe, die ich für Celia, meine Frau, zu empfinden glaubte … daß all das bloß Täuschungen waren und keine Liebe, nur Eitelkeit und Lust, weswegen ich mich jetzt schäme. Wirklich geliebt auf Erden habe ich in meinem ganzen Leben nur zwei Menschen, und zwar John Pearce und den König.«
    Der Schock darüber, daß ich den König und Pearce in einem Atemzug genannt hatte, ließ die Freunde aufsehen und mich mit ihren strengsten Mienen anblicken. Ich öffnete meine Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. »Ihr werdet jetzt sogleich sagen«, fuhr ich fort, »daß John Pearce meine Liebe verdient, der König aber nicht, und daß ich mir letztere, was auch John zu mir gesagt hat, aus dem Herzen reißen sollte. Doch ich scheine das nicht zu können. Denn ganz gleich, was ich tue und wie weit ich mich von meinem früheren Leben entferne: Ich finde sie immer wieder vor. Allerdings ist es keine gierige Liebe mehr. Sie verlangt nichts. Sie ist wie die Liebe zu einem Toten, sie ist wie meine Liebe zu John. Denn ich werde keinen der beiden je wiedersehen. Ich werde nie mehr mit ihnen zusammensein. Doch ich ver
stehe in dieser Nacht, daß es diese beiden Menschen sind, die ich wirklich geliebt habe – klugerweise den einen, unklugerweise den anderen –, und daß niemand auf Erden mir je so viel bedeutet hat wie sie. Und für diese Erkenntnis, mag sie mir nun von Gott oder woandersher gekommen sein, fühle ich mich dankbar.«
    Die Hitze in meinem Gesicht und Körper ebbte kurz darauf ab, obwohl ich mir bewußt war, daß die Augen aller Freunde noch immer auf mir ruhten. Die Luft war stickig von ihrer Mißbilligung, und ich erwartete, daß sie mir nun ihre Meinung sagen würden. Doch das taten sie nicht. So nahm ich an, daß jeder seinen Zorn um der Ruhe und um Johns willen niederkämpfte.
    Die Nacht verging und es wurde Morgen. Um sechs Uhr tranken wir etwas heiße Schokolade und aßen ein paar Plätzchen, die, wie ich meinte, ganz merkwürdig nach Holzkohle schmeckten.
     
    Am 10. September um die Mittagszeit wurde Pearce ins Grab gelegt und die gelbe Erde von Whittlesea dicht um ihn herum und auf ihn gepackt. Vor dem Festnageln des Deckels hatte ich mich noch einmal vergewissert, daß die Suppenkelle zu ihm in den Sarg gelegt worden war. Während ich am Grab stand, mußte ich daran denken, wie in Cambridge einmal gerissene Diebe, die sich »die Angler« nannten, versucht hatten, die Kelle und Pearces sonstige Besitztümer zu stehlen. Sie arbeiteten mit einer langen Stange, an deren Ende ein Haken aus Draht befestigt war, und diese Stange war eines Nachts, als Pearce schlief, durch sein offenes Fenster geschoben worden. Als er aufwachte, sah er, wie im Schein des Mondlichts ein Stuhl drei Fuß hoch über dem Boden dahin
glitt und durch das offene Fenster hinausschwebte. »Erst als die Stange wieder in mein Zimmer kam«, hatte er mir erzählt, »und ich sah, daß sie sich auf meine Suppenkelle zubewegte, erkannte ich, daß da Schurken am Werk waren und nicht Gespenster. Ich schrie wütend auf, und mein Schreien erschreckte sie, und sie rannten weg.« Er lachte, als er mir diese Geschichte erzählte, und dann sagte er: »Vielleicht ist es ja immer leichter, die Lebenden abzuschrecken als die Toten? Was meinst du, Merivel?«
    Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, was ich darauf antwortete.

Katharine schläft
    W ie Ihr inzwischen sicher bemerkt habt, bin ich nicht sonderlich für die Einsamkeit geschaffen. Doch

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