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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich, »ich gehe manchmal draußen ein wenig spazieren, wenn ich nicht schlafen kann …«
    »Ich habe dich gehört.«
    Ich ging näher an Pearce heran. Ich kenne ihn so gut, daß ich ihm ansehe, wenn er ärgerlich ist, ohne daß er etwas zu sagen braucht; daher blickte ich ihn jetzt scharf an. Zu meiner großen Erleichterung sah ich keinen Zorn. Doch ich sah etwas anderes, als ich mich seinem Bett näherte, und zwar, daß ihm der Schweiß von der Stim lief und seine Wangen (die gewöhnlich von so durchsichtiger Blässe sind, daß man sich kaum vorstellen kann, daß Pearce je an der frischen Luft ist, geschweige denn, daß er jeden Tag viele Stunden
hackend und schneidend in seinem Gemüsegarten verbringt) hektisch gerötet waren, woran ich erkannte, daß er hohes Fieber hatte.
    Ich ging zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Stirn. Meine Hand schien zu verbrennen.
    »John …«, fing ich an.
    »Ja. Schon gut. Ich habe etwas Fieber. Das wollte ich dir gerade sagen. Ich habe dich nicht gerufen, damit du mir sagst, was ich schon weiß.«
    »Warum hast du mich dann gerufen?«
    »Ich habe dich gerufen, weil …«
    »Was?«
    »Ich kann meine Suppenkelle nicht finden. Sie ist wohl heruntergefallen und unter mein Bett gerollt.«
    Ich kniete mich auf den Boden und suchte mit der Hand im Staub unter seinem Holzbett, konnte sie aber nicht finden. Ich tastete überall unter dem Bett herum, so weit mein Arm reichte, doch sie war nicht da.
    »Ich kann sie nicht finden, John.«
    »Bitte, such sie, Merivel!«
    »Warum nennst du mich ›Merivel‹?«
    »Habe ich dich so genannt?«
    »Ja.«
    »Wo du doch in Wirklichkeit … wer bist? Mir fällt nur in diesem Augenblick dein anderer Name nicht ein.«
    »Robert.«
    »Robert?«
    »Ja.«
    »Heute nacht, seitdem ich das Fieber habe … scheint mir der Name Robert entfallen zu sein; ich erinnere mich nur noch an Merivel und daran, wie wir einmal zusammen etwas
so Wunderbares gesehen haben: ein sichtbares, schlagendes Herz. Weißt du das noch?«
    »Ja, John.«
    »Und du hast deine Hand in die Höhle geschoben und es berührt, weil ich es nicht konnte.«
    »Ja.«
    »Und der Mann fühlte nichts.«
    »Er fühlte nichts.«
    »So bete, daß ich dieser Mensch werde.«
    »Warum?«
    »Damit ich in meinem Herzen und auch sonst keinen Schmerz spüre.«
    »Hast du denn Schmerzen?«
    »Hast du die Suppenkelle gefunden?«
    »Nein. Sie scheint nicht unter deinem Bett zu sein.«
    »Bitte versuche, sie zu finden.«
    »Ich weiß nicht, wo ich sonst noch suchen soll. Wo soll ich suchen?«
    »Pst. Sprich nicht so laut. Du weckst die anderen.«
    »Ich werde die anderen wirklich wecken, wenn du mir nichts über deine Schmerzen sagst. Ist es der Schmerz, den du schon zuvor hattest, der in der Lunge?«
    »Ist es möglich, daß jemand meine Suppenkelle gestohlen hat?«
    »Nein. Ich werde sie finden. Wo ist der Schmerz, John? Zeig oder sag es mir! Wo ist er?«
    Pearce blickte zu mir auf. Seine blaßblauen Augen sahen in dem schwachen Kerzenlicht dunkler aus. Er zog seine Hand zurück und legte sie sich zögernd auf die Brust.
    Ich stand auf. Ich erklärte ihm, daß ich mich weigerte, weiter nach der Suppenkelle zu suchen, solange ich seine Lunge
nicht abgehorcht hätte. Dann half ich ihm behutsam auf den Rücken, schlug das Bettzeug zurück und legte meinen Kopf (den noch vor einer halben Stunde Katharine an ihre Brust gedrückt hatte, damit ich wie ein Baby an ihr sauge) auf sein Brustbein und dann auf sein Zwerchfell.
    Pearces Suppenkelle fand ich unter seinen Kopfkissen und reichte sie ihm. Dann sagte ich zu ihm, daß ich Wasser heiß machen wolle für eine Balsaminhalation. Ich ließ ihn für eine Weile allein zurück und ging zunächst in mein Zimmer, um mich zu waschen, denn ich hatte das Gefühl, daß mir überall Katharines Geruch anhaftete. Ich zog ein sauberes Nachthemd an und kämmte mir die Haare. Erst dann ging ich in die Küche hinunter und begann die wenigen Heilmittel zuzubereiten, die ich und die Welt der Medizin für den Zustand meines Freundes anzubieten hatten, doch schon während ich daran arbeitete, wußte ich, daß sie diesmal nicht stark genug sein würden, um ihn gesund zu machen.
     
    Von dieser Nacht an wachten wir, die Betreuer vom Whittlesea, abwechselnd an Pearces Bett, zehn Tage und Nächte lang.
    Am fünften oder sechsten Tag wurden die Schmerzen beim Atmen so stark, daß er mir zuflüsterte: »Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal so inbrünstig auf meinen letzten Atemzug

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