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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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würde sie nicht mehr anrühren und nicht mehr an mich heranlassen, wenn Er dafür Pearce am Leben ließ.
    Doch ich wußte, daß es vergeblich war. Ich wußte, daß Pearce im Sterben lag. Ich hielt mich aber an meine Abmachung. Und Katharine, die sich von mir verlassen fühlte, kam vom Freilufthof zu unserem Haus, schlug mit den flachen Händen an die Tür und schrie hinaus in alle Welt, daß ich ihr Liebhaber war. An jenem Abend, dem neunten von Pearces Krankheit, saßen die Betreuer und ich schweigend beim Essen. Sie sahen mich traurig an, sagten aber nichts, bis Ambrose am Ende der Mahlzeit das Wort ergriff: »Robert wird mit uns sprechen, wenn er glaubt, daß der richtige Zeitpunkt gekommen ist.« Ich nickte. Dann standen wir alle auf und räumten das Geschirr weg.
    Sie wußten, daß ich Whittlesea nicht verlassen konnte, solange Pearce noch unter uns weilte.
     
    Er starb in der ruhigen Zeit zwischen Nachtbetreuung und Morgendämmerung am elften Tag seiner Krankheit.
    Ich war allein bei ihm.
    Ich schloß ihm den Mund. Ich nahm seine dünnen, weißen Hände und faltete sie auf seiner Brust. Und in seine Hände legte ich die Suppenkelle.
    »Sieh«, flüsterte ich ihm zu, »die Suppenkelle wird dir nicht weggenommen.«
    Dann schloß ich ihm die Augen und setzte mich an sein Bett. Erst jetzt wurde ich mir der Stille bewußt, und ich erkannte, daß sie jetzt für immer herrschen und ich sie künf
tig »hören« würde, wenn ich an ihn, meinen Freund, denken oder in Gedanken mit ihm sprechen würde. Wo vorher Antworten, wohlmeinende Ratschläge oder mißbilligendes Naserümpfen gewesen waren, würde es fortan nur noch die Stille von Pearce geben.
    Ich saß vornübergebeugt auf dem harten Stuhl, die Ellbogen auf den Knien, und weinte. Ich versuchte nicht, meine Tränen zurückzuhalten oder sie mit einem Taschentuch oder einer gestreiften Serviette abzuwischen, sondern ließ sie auf den Boden und meine Oberschenkel fallen und meine Beine hinunterlaufen.
    Als ich wieder aufsah, war das Licht am Fenster milchig geworden, und Ambrose, Edmund, Hannah, Eleanor und Daniel waren ins Zimmer gekommen und standen neben dem Bett, ihre Hände zum Gebet zusammengelegt.
     
    Am gleichen Tag noch wurde von zwei Männern vom George Fox ein Sarg für Pearce gezimmert. Er war zu groß für ihn; wir legten ihn dennoch hinein und füllten den Platz um seinen Körper herum mit Birnenzweigen aus.
    Wir hielten in unserer Wohnstube eine Totenwache, welche die Form einer die ganze Nacht dauernden Zusammenkunft annahm, während der wir, wann immer uns danach zumute war, von ihm sprachen oder für seine Seele beteten.
    Ohne es in Worte zu fassen, versuchte ich, in mir all das zu sammeln, was mir von seiner Weisheit einfiel, und ich mußte daran denken, wie verzweifelt er über die Gier und Selbstsüchtigkeit unserer Zeit gewesen war, die, wie er meinte, einer Krankheit oder Seuche glichen, gegen die kaum jemand gefeit war, nicht einmal die Poeten oder Stückeschreiber, »denn, Robert, selbst der schöpferische Geist ist verhurt,
und die Mutter Frömmigkeit hat das Kind Luxus geboren, die schamlose Tochter …« Diese Gedanken trösteten mich etwas, weil ich durch sie erkannte, daß Pearce nur wenig auf dieser Welt geliebt hatte – die Güte der Quäker, die Weisheit eines William Harvey, das Andenken an seine Mutter, das Wachsen von Bäumen en espalier , das Licht auf einem Forellenbach –, so daß er, wenngleich er behauptete, den Tod zu fürchten, diesen sicher auch oft herbeigesehnt hatte.
    Ich gab mir gerade große Mühe, mir Pearce im Paradies vorzustellen (ich habe oft versucht, mir meine Eltern dort vorzustellen, kann aber nur Erinnerungen an die Wälder von Vauxhall heraufbeschwören, und ich möchte doch bezweifeln, daß das Paradies, falls es eines gibt, Ähnlichkeit mit einem Ort hat, an dem die Londoner Picknick machten), als Daniel plötzlich sagte: »Mir ist durch Gott der Gedanke gekommen, daß John Pearce mich viele Dinge am Beispiel seines Lebens gelehrt hat, wovon wohl das wichtigste ist, daß man durch Zuneigung nie blind werden sollte, denn es war seine Art, gerade diejenigen am härtesten zu beurteilen, die er am meisten liebte, und so schadete ihnen seine Liebe nie, sondern half ihnen nur, stärker zu werden.« Ich sah auf und bemerkte, daß Daniel mich anblickte, und auch Ambrose sah mich an: Die beiden schienen darauf zu warten, daß ich sprach.
    Mir war so heiß wie bei jener Zusammenkunft, bei der ich das

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