Zeit der Sinnlichkeit
ist, daß es das menschliche Auge nicht sehen kann?«
»Ich glaube ja, John.«
»Und daraus, daß das menschliche Auge diese so unendlich kleinen Dinge nicht sehen kann, könnte man dann folgern, daß es möglicherweise noch mehr Materie gibt, von deren Existenz wir nicht die geringste Ahnung haben, ist es nicht so?«
»Ja, das ist so.«
Er seufzte und schwieg dann längere Zeit. Schließlich sagte er: »Es bekümmert mich, daß ich so viel ins Grab mitnehme, was ich nicht weiß.«
»Es wäre mir lieber, wenn du nicht übers Grab sprechen würdest, John«, sagte ich.
»Natürlich wäre dir das lieber«, erwiderte er bebend. »Seitdem wir uns begegnet sind, hat es immer wieder Dinge gegeben, über die ich besser geschwiegen hätte, wenn es nach dir gegangen wäre. Aber das war eben nicht meine Art. Und jetzt gibt es noch eine Ungewißheit, die ich nicht gern mit mir nehmen will, und das ist die, was aus meinen Sachen wird.«
»Aus welchen Sachen?«
»Aus den wenigen Dingen, die kostbar für mich sind. Du hast sie einmal meine ›glühenden Kohlen‹ genannt, um dich über mich lustig zu machen.«
In diesem Augenblick kam Daniel, so daß mir die Demütigung erspart blieb, Pearce gegenüber noch eine Entschuldigung vorbringen zu müssen, die mir doch so schwer über die Lippen gekommen wäre, da ich mir im Grunde ersehnte, daß er mich um Verzeihung bäte wegen der Rücksichtslosigkeit dessen, was er im Begriff war zu tun: mich zu verlassen.
Daniel stellte das Tablett ab, mit dem er eine Schale Brühe, einen Löffel sowie eine grünliche Frucht gebracht hatte, in der Pearce sofort eine seiner Birnen erkannte. Pearce nahm die Birne in die Hand, befühlte sie, hielt sie dann an seine wunde Nase und schnupperte daran. »Den süßen Duft der Birnen«, sagte er mit seiner verzückten Stimme, die mich immer an unsere Ausflüge an den Fluß und an seine übertriebene Freude beim Anblick einer Eintagsfliege erinnerte, »liebe ich schon seit Jahren.«
Daniel lächelte mir zu und setzte sich neben Pearce, um ihm beim Nippen seiner Brühe zu helfen. Zu meiner Überraschung bat Pearce ihn jedoch freundlich, uns allein zu lassen, weil er mit mir sprechen wolle. Der Junge stand sofort auf, reichte mir den Löffel und verließ den Raum.
Die Fleischbrühe war sehr heiß. Damit Pearce sich nicht den Mund verbrannte, pustete ich über jeden Löffel, bevor ich ihn zu seinem Munde führte. Für einige Augenblicke lag Schweigen über uns, da wir uns beide auf das Füttern konzentrierten. Doch die Anstrengung der Nahrungsaufnahme schien Pearce sehr schnell zu ermüden, denn er bat mich, das
Tablett wegzubringen und statt dessen Federhalter, Tinte und Papier zu holen.
Wenn ich das Blatt auch nicht mehr vor mir habe, da ich angewiesen war, es Ambrose zu geben, so weiß ich doch noch genau, was ich geschrieben habe. Es war bestimmt eines der kürzesten Testamente, die es je gegeben hat, denn von Pearces glühenden Kohlen waren, wie die Dinge nun einmal lagen, nur noch ein paar wenige, ausgeglühte übriggeblieben. Alle seine Bücher einschließlich der Bibel hinterließ er dem Whittlesea House. Seine Kleider – diese fadenscheinigen Sachen, die er ohne die geringste Verlegenheit oder Scham getragen hatte – versprach er »den Insassen unserer Anstalt, damit sie auch einmal die Kleidung eines echten Quäkers tragen können und gütig zueinander sind«, und die Suppenkelle vermachte er mir, »dieses zerbrechliche Ding, das vielleicht auch ihm manchmal Trost spenden wird«. Das war alles. Die letzte Zeile, die ich schreiben mußte, lautete: »Sonst gibt es auf dieser Welt nichts, was John Joseph Pearce, Quäker, sein eigen nennt.«
Als ich alles niedergeschrieben hatte (mit der sorgfältigen Schrift, zu der ich fähig bin, wenn ich der Haltung des Federkiels in meiner Hand besonders große Beachtung schenke), reichte ich das Blatt Pearce und half ihm, seinen Namen darunterzusetzen. Ich sagte nichts dazu, daß er mir die Suppenkelle schenken wollte, da ich darüber so traurig und bekümmert war, daß ich vorerst gar nicht sprechen konnte. Als ich meine Stimme wiederfand, war es, um Pearce zu fragen, ob er etwas von der grünen Birne kosten wolle. Er verneinte dies, weil er befürchtete, wie er sagte, daß dann seine Zähne schmerzen würden.
Seit der Nacht, in der Pearce bei meiner Rückkehr vom Margaret Fell nach mir gerufen hatte, war ich nicht mehr bei Katharine gewesen. Ich hatte mit Gott einen Handel abgeschlossen: Ich
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