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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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spüren) wußte ich, daß es die Stille von Pearce war, die zu mir zurückgekehrt war.
    Sie ist etwas, was ich nur sehr schwer ertragen kann, da ich mich schrecklich einsam darin fühle. Ich konnte nicht länger still daliegen. Daher erhob ich mich und ging in die Wohnstube hinunter, wo ich mich vor die Glut des Kaminfeuers setzte, um auf den Morgen zu warten. Doch da es inzwischen Winter war, wußte ich, daß dieses Warten lange dauern würde, und so ging ich, um die Zeit totzuschlagen, wieder nach oben und holte unter dem Bett (wo ich meine wenigen Bücher und Briefe in einem der Whittlesea-Mehlsäcke aufbewahrte) die Ausgabe von William Harveys De Generatione Animalium hervor, die mir Ambrose am Tage meiner Abreise gegeben hatte. Es war Pearces Exemplar. Er hatte so oft darin gelesen, daß die einzelnen Buchseiten so dünn und empfindlich wie Blütenblätter geworden waren, ja, so brüchig, daß man kaum wagte, sie umzublättern. Das
schwarze Leder des Einbands war fleckig und rissig, doch Pearce hatte das Buch so oft an sein Herz gedrückt, daß es ein wenig nach ihm roch. Ambrose hatte es mir mit den Worten überreicht: »Dies war ein Teil von John und ist ein Ersatz für die Suppenkelle.«
    Ich legte mir das Buch aufs Knie, öffnete es und blätterte es vorsichtig, Seite für Seite, durch. Pearce hatte bestimmte lateinische Sätze Harveys unterstrichen, und fast auf jeder Seite waren Anmerkungen in seiner winzigen Schrift. Im Innern des Buches entdeckte ich zwei gepreßte Schlüsselblumen, die anscheinend vor langer Zeit dort hineingelegt und dann vergessen worden waren, außerdem ein Blatt gewachstes Papier, auf dem das griechische Wort προφυλακτικός, das »Vorbeugungsmittel« bedeutet, stand. Darunter war eine Liste – in Englisch, soweit ich erkennen konnte – von Ingredienzen nebst einer kurzen Anweisung zum Mischen.
    Ich nahm das Blatt aus dem Buch und brachte es näher ans Licht. Nun konnte ich sehen, daß Pearce unter die Liste und die Anweisung ein paar der schnörkeligen Fragezeichen gesetzt hatte, mit denen alle seine medizinischen Bücher gespickt sind. Dieses Zeichen hatte für ihn eine ganz präzise Bedeutung, nämlich »nicht bewiesen«. Ich wollte das Blatt gerade wieder in das Buch zurücklegen, als ich bemerkte, daß einer der Bestandteile in Pearces Aufzählung Butterblumenwurzel war, und wenn diese fleischige Zwiebel heute auch nur noch selten in Arzneimittelzubereitungen verwendet wird, so ist sie doch von alters her allen Vorbeugungsmitteln, die je gegen den Pesterreger erdacht worden sind, beigemengt worden. Daraus schloß ich – richtig, wie ich gleich sehen sollte –, daß das, was ich in der Hand hielt, Pearces eigenes Vorbeugungsmittel gegen die Pest war.
    Daß Pearce dieses ausgerechnet auf gewachstes Papier geschrieben hatte, war recht merkwürdig, denn die Tinte haftet nicht richtig darauf, so daß die Schrift über kurz oder lang unsichtbar wird. Glücklicherweise hatte er einen sehr spitzen Federkiel verwendet (er war immer sehr eigen gewesen, was seine Schreibfedern anging, und hatte dünne bevorzugt), und so wurden die Worte, als ich sie vors Licht hielt, magisch erleuchtet, weil sie ins Wachs eingekratzt waren.
    So kannte ich nun meine kleine Rolle in Londons großer Tragödie: Ich würde Pearces Vorbeugungsmittel vertreiben. Ich würde Geschäfte mit der Hoffnung machen.
     
    Das Geld, das ich noch gehabt hatte, als ich mit Katharine in London angekommen war, war dahingeschmolzen. Was wir aßen, hatte Frances Elizabeth gekauft, und auch für die Kohle, die uns Wärme spendete, hatte sie bezahlt. Ich revanchierte mich, indem ich ihr beim Briefeschreiben half, ihre Schreibfehler korrigierte und ihr ein paar elegante Wendungen beibrachte. Sie schien mit dieser Regelung zufrieden zu sein, doch ich war es nicht. Die Vorstellung, daß mich nur Beschwerde- und Bittbriefe (die für arme Leute geschrieben wurden, die sich die Worte eigentlich gar nicht leisten konnten) vor der Not bewahrten, verursachte mir Angst und Unbehagen. Daher gelobte ich mir, daß ich mir meinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Pearces Heilmittel verdienen würde, auch wenn meine Kunden die Verwandten der Toten oder Sterbenden sein würden und ich jene Häuser betreten mußte, die mit roten Kreuzen und den Worten »Gott sei uns gnädig« gekennzeichnet waren.
    Ich bezahlte einem alten Apotheker, den ich noch aus meiner Zeit in Ludgate kannte, fünf Guineen. Für diesen Betrag
stellte

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