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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Katharine heranwuchs, wuchs auch ihr Schlafbedürfnis. Auch ihre Mutter nickte, wie aus Sympathie für ihre Tochter, häufig ein und döste in dem gutgeheizten Raum über ihren Briefen. So schlich ich
mich denn aus dem Haus und überließ Katharine, deren Arm zum Boden herabhing, und ihre Mutter, deren Kopf auf dem Tisch lag, ihren Träumen.
    Sie fragten nicht, wohin ich ging; es schien sie nicht zu kümmern. Sie wußten, daß ich wiederkommen würde, denn Katharine hatte mich bei ihren grünen Pantoffeln schwören lassen, daß ich niemals einen Abschiedsschritt irgendwelcher Art einüben oder ausführen würde. So fing ich an, mein »Bild« von London zu entwerfen, indem ich mich von Cheapside aus manchmal nach Norden wandte, meist aber nach Süden zum Fluß und meinen alten Lieblingsplätzen, da ich wußte, daß ich dort alle Veränderungen bemerken und auch verstehen würde.
    Rosie besuchte ich nicht. In ihrer Straße gab es zwei Häuser, die mit den Worten »Gott sei uns gnädig« gekennzeichnet waren, und in einigen Schlupfwinkeln am Wasser bei Southwark sah ich Ratten. Man konnte aber dennoch nicht sagen, daß Rosie der Pestgefahr stärker ausgesetzt war als irgend jemand in Lambeth, Spitalfields oder Shoreditch, denn die Krankheit schien nicht einem bestimmten Pfad auf dem Boden zu folgen, sondern eher aus der Luft zu kommen, wie Samen, der vom Wind dahingetragen wird und ziellos hierhin und dorthin fällt.
    Es gab noch immer Lärmen auf dem Fluß, aber weniger als früher, denn viele der Gecken und Galane waren mit ihren Frauen aufs Land geflohen und hatten all ihr Geschrei mitgenommen. Man erzählte mir, daß einige der Kahnfahrer Hunger litten, da sie nicht genug zu tun hatten, und so machte ich es mir zur Gewohnheit, mich jeden Nachmittag ein Stück rudern zu lassen. Für diese Wohltätigkeit wurde ich mit dem neuesten Flußklatsch belohnt und vernahm, daß
Hunderte armer Seeleute, die man ohne Lohn von ihren Schiffen geschickt hatte, nach London gekommen waren – wo sie die allgemeine Niedergeschlagenheit noch vergrößerten –, um das Marineamt um Geld zu bitten, und daß sie hier, da sie weder ein Dach über dem Kopf noch die Wärme eines Kamins hätten, leicht Opfer der Pestilenz würden, »jedoch keinen anderen Ort haben, wo sie sterben können, Sir, außer der Straße, und so liegen sie dann als ekelhafte Tote in der Gosse«.
    »Warum werden sie nicht bezahlt?« fragte ich die Kahnfahrer und erhielt von allen die gleiche Antwort, nämlich, daß kein Geld da war, da der König »mit dem, was das Parlament ihm gibt, sehr verschwenderisch umgeht, so, als glaube er, er brauche nur falsche Versprechungen zu machen, damit es immer weiter Gold scheißt«. Ich mußte daran denken, daß der König gesagt hatte, der »Honigmond« seiner Regierungszeit sei vorbei. Ich hatte ihm nicht geglaubt, doch jetzt sah ich, daß er recht gehabt hatte: Er wurde nicht mehr so geliebt wie früher. Außer von mir.
     
    Schon nach wenigen Wochen des Umherstreifens in London wurde mir etwas sehr Wichtiges klar: Ich versuchte nicht nur, die Not der Stadt zu verstehen, sondern auch, darin eine Aufgabe für mich zu finden. Daher fing ich an, die Kahnfahrer, die Aalpastetenverkäufer, den Tintenverkäufer in der Cloak Lane und alle anderen, die sich auf ein Gespräch mit mir einließen, zu fragen: »Was kann ich, ein ausgebildeter Arzt, in dieser Zeit tun?« Doch ich bekam keine zufriedenstellende Antwort. Einige Leute spuckten mir ins Gesicht, als habe mich das Wort »Arzt« für sie sehr abstoßend gemacht. Andere gaben mir den Rat, nach Hause zu gehen, meine Türen fest zu verschließen und im übrigen über meinem Kaminfeuer Heil
kräuter zu verbrennen und abzuwarten. Andere wiederum fingen an, sich auszuziehen, und forderten mich auf, ihre Körper auf Flecken und Schwellungen hin zu untersuchen. Doch niemand sagte mir, wie ich mich nützlich machen könnte.
    Wahrscheinlich wäre ich weiter ziellos umhergewandert, hätte mir Notizen gemacht, mich unterhalten und beobachtet, wenn ich nicht eines Nachts neben Katharine aufgewacht wäre und in dem Raum und in meinem Bewußtsein eine so tiefe Stille »gehört« hätte, daß man sie nicht mit Worten beschreiben kann, denn es gibt nichts auf dieser Welt, womit man sie vergleichen könnte. Ich lag in ihr und schaute auf die Dunkelheit und wartete darauf, daß ich verstehen würde, was es war. Nach einigen Minuten (daß die Minuten vergingen, konnte ich nicht hören , sondern nur

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