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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Ende der Pestilenz zu beten. Da es mich sehr neugierig machte, welchen Trost sie darin fanden, ihr eigenes Fleisch zu verletzen, folgte ich ihnen.
    Ich bemerkte, daß alle Leute, die uns entgegenkamen, voller Angst auf diese Flagellanten sahen, so, als könnte der Pesterreger bei ihnen selbst seinen Ursprung haben; sie gingen sogar auf die andere Straßenseite, um ihnen nicht zu nahe zu kommen. Es ging mir durch den Kopf, daß große Furcht vor einer bestimmten Sache beim Menschen gewohnheitsmäßige Angst erzeugen konnte, so daß er sich dann vor allem fürchtet, was ihm nicht vertraut und angenehm ist. Und diesen Überlegungen folgte die Erkenntnis, daß ich, da ich mein Leben nicht mehr als etwas Wunderbares und Wertvolles ansah, vor nichts mehr Angst hatte, nicht einmal mehr vor dem Tod. Ich lächelte in mich hinein, denn unversehens tauchte der König vor meinem geistigen Auge auf. Er sah sich meine neue Furchtlosigkeit an, rümpfte die Nase und sagte: »Gut!« Daraufhin drehte er sich um, wie es seine Art ist, und ging fort, ohne sich herabzulassen, noch mehr dazu zu sagen.
    Wir näherten uns der St.-Pauls-Kirche. Da ich keine Ah
nung hatte, wie lange das Beten dieser Flagellanten dauern würde, wenn sie erst einmal die Kirche betreten hatten, und weil ich an die Tinte dachte, die ich besorgen sollte, beschloß ich, sie sofort anzusprechen und zu fragen, ob sie ein paar Minuten Zeit für mich hätten, bevor sie mit ihren Gebeten anfingen.
    Da ich von hinten an die Gruppe herantrat, sah ich, daß bei zweien von ihnen die Schultern mit vielen kleinen Wunden wie von einem Ausschlag übersät waren und daß einige dieser Verletzungen sich entzündet hatten und eiterten. Daher begann ich das Gespräch mit den Worten (recht laut, damit sie mich bei ihrem Klagen hören konnten): »Ihr guten Leute, laßt euch von mir sagen, daß ich Arzt bin, und wenn die Schmerzen eurer Wunden einmal stärker sein sollten, als ihr es beabsichtigt habt … dann kann ich euch einen Balsam dafür geben, um sie weniger …«
    Sie wandten sich alle um und starrten mich an, und ich sah, daß sie ihre Gesichter, um wie Skelette auszusehen, mit einer weißen Paste beschmiert hatten. Da verstand ich, daß es in ihrer Absicht lag, die Leute abzuschrecken, und sie schienen wirklich einigermaßen beleidigt zu sein, daß ich die Kühnheit besessen hatte, mich ihnen zu nähern.
    »Unsere Schmerzen«, sagte einer von ihnen knapp, »sind niemals schlimmer als beabsichtigt, auch nicht geringer, und was euch Ärzte angeht, warum straft ihr euch nicht selbst?«
    Ich erwiderte, daß mich, was meinen eigenen Fall beträfe, das Schicksal schon so hart gestraft habe, daß ich nun jeder Notwendigkeit enthoben sei, dies selbst zu tun. Ich lachte über meine kecke Antwort, vielleicht in der Hoffnung, den Flagellanten damit ein Lächeln zu entlocken, was aber nicht geschah. So stellte ich schnell meine Frage. »Seht Euch um«,
antwortete einer von ihnen, »und Ihr werdet nicht London, nicht eine Stadt sehen, die Ihr einmal gut gekannt habt, sondern einen Ort, der dem Chaos anheimgefallen ist. Ein Mensch, der im Chaos leben muß, wird sehr bald den Verstand verlieren. Wir aber nicht. Denn wir sehen das Chaos nicht, wir hören es nicht, und wir riechen es auch nicht. Wir fühlen und kennen nur unseren eigenen Schmerz.«
    Ich dankte ihnen und ließ sie weitergehen. Dann lief ich langsam zur Cloak Lane, wo ich hoffte, die Tinte für Frances Elizabeth kaufen zu können, vorausgesetzt, daß der Tintenverkäufer während meiner Abwesenheit nicht an der Pest gestorben war. Auf meinem Weg dorthin dachte ich über die Worte und das Handeln der Flagellanten nach und fragte mich, wie ich selbst mir mein Leben an diesem »Ort, der dem Chaos anheimgefallen ist« am besten einrichten könnte, um mir den Verstand zu erhalten, der mir noch verblieben war. Ich beschloß, meine Augen nicht vor dem Leid der Stadt zu verschließen, sondern zu versuchen, es richtig einzuschätzen und klar zu erkennen. Ich würde mich umsehen. Ich würde versuchen, ein Bild von der Pest entstehen zu lassen (nein, nicht auf der Leinwand!), mir in meinem Kopf ein Bild davon zu machen, wo sie herrschte, wie sie sich ausbreitete und was die Menschen sich alles ausgedacht hatten, um sie zu vertreiben. Ich entwarf einen Plan, mit dem ich der Langsamkeit und Traurigkeit der Zeit entgegentreten wollte, und das Ausarbeiten dieses Plans munterte mich ein wenig auf.
     
    Im gleichen Maße, wie das Kind in

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