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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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den Gestank der Toten in einigen Stadtteilen nicht vorstellen …«
    Ich war drauf und dran zu sagen, daß ich als Arzt Leichengeruch gut kannte, war dann aber froh, nichts erwidert zu haben, denn unsere Mitreisenden erzählten, daß alle, die mit der Medizin zu tun haben – vom Chirurgen bis zum Apotheker –, gehaßt würden, da sie nicht in der Lage waren, ein Mittel zur Vorbeugung oder Heilung zu finden. »Ärzte«, verkündete lautstark eine Frau, die mir gegenübersaß, »sind die am meisten verachteten Leute in England.« Und sie saugte an ihren Zähnen, da sie den Giftgeschmack in ihrem Mund wohl mochte.
     
    In der Abenddämmerung erreichten wir Cheapside, wo Katharines Mutter wohnte. Wir stiegen aus der Kutsche, und die zwei Säcke mit meinen weltlichen Gütern wurden mir heruntergereicht.
    Ich stand einen Augenblick still da und atmete die Stadt ein. Der Geruch der Luft schien sich durch die Pest nicht verändert zu haben. Doch fiel mir sofort eine seltsame Stille auf der Straße und ringsumher auf, die der Stille des Schnees glich. Es war, als sei die Stadt in eine Art Trance verfallen oder zu einem Ort geworden, an dem ich nicht wirklich stand, sondern den ich mit meinen Augen und Ohren nur aus wei
ter Ferne wahrnahm. Ich ließ meine Blicke umherschweifen: Da gab es eine Gruppe von Kindern, die der Kutsche hinterherrannten. Zwei Frauen standen auf einer Türschwelle, eine davon hielt einen Säugling im Arm. Ein mit Fässern beladener Wagen fuhr vorbei, und ich konnte die Hufe des Zugpferds hören. Doch dieses Geräusch, ebenso wie das Geschrei der Kinder, wurde rasch schwächer und erstarb schließlich ganz, so daß wieder Stille herrschte. Ich beugte mich hinunter, um einen der Mehlsäcke aufzuheben. Dabei sah ich, wie Katharine ihre Röcke hob und sich hinkauerte, um in die Gosse zu pissen. »Sobald man ein Kind trägt«, sagte sie, »verrichtet man sein Geschäft, wo immer es geht, man kann nicht warten.« In diesem Augenblick kam ihre Mutter aus dem Haus. Sie legte die Hände vor den Mund und starrte auf ihre Tochter, die sie den Betreuern des Whittlesea übergeben hatte; dann bekreuzigte sie sich, als habe sie Angst. Katharine, rot im Gesicht von der Anstrengung, ihre Blase zu entleeren, sah zu ihrer Mutter auf und fing an zu lachen. Ich glaube nicht, daß ich jemals ein peinlicheres Wiedersehen von zwei Leuten erlebt habe, die lange voneinander getrennt gewesen waren.
     
    Die Mutter ist Witwe, eine große, kräftige Frau von vierzig oder fünfundvierzig Jahren. Sie läßt sich gern mit ihren beiden Vornamen, Frances Elizabeth, anreden, als seien sie zu einem Namen zusammengeschmolzen. Sie fristet ihr Leben, indem sie Briefe für Leute schreibt, die nicht lesen und schreiben können. Ich habe gesehen, wie sie schreibt: Sie hat eine häßliche Schrift und ist schwach in der Rechtschreibung. Ein kleines Schild an ihrer Haustür lautet: Frances Elizabeth Wytliens. Briefeschreiben. Ein Penny pro Zeile. Sie
hat das Schreiben nicht in der Schule oder von einem Lehrer gelernt, sondern von ihrem toten Mann, der Schreiber im Patentamt war. »Er war«, sagt Frances Elizabeth an unserem ersten Abend in ihrem Haus zu mir, »ein sehr gewissenhafter Schreiber.«
     
    Das Haus ist eng, dunkel und überheizt von den beiden Kaminfeuern, einem oben und einem unten, die sie als Vorbeugung gegen die Pestilenz, die in Cheapside schon zwei Familien heimgesucht hat, nicht ausgehen läßt. Es riecht nach Rauch, altem Firnis und Kampfer; die Fenster sind schmal und rußig. Das Zimmer, das wir bekommen haben, erinnert mich ein wenig an jenes, das ich vor vielen Jahren in Ludgate hatte; Ludgate ist nicht weit von hier entfernt. In meinem Bett dort lernte ich Vergessen der süßesten Art kennen, doch in diesem hier scheine ich in keine Bewußtlosigkeit und kein Vergessen eintauchen zu können. Ich liege wach da und lausche auf das Schweigen, das sich über London gelegt hat. Jetzt ist Katharine diejenige, die schläft. Ihr wirres Haar fällt über meine Schulter, und ihr Arm liegt auf meiner Brust.

DRITTER TEIL

Ein Vorbeugungsmittel
    N icht lange nach unserer Ankunft in London traf ich, als ich unterwegs war, um für Frances Elizabeth Tinte zu kaufen, auf eine Gruppe zerlumpter Männer, die sich mit grausamen kleinen Peitschen geißelten, ähnlich den Flagellanten des Schwarzen Todes des Jahres 1348. Wir befanden uns in der Change Street, und ich nahm an, daß sie auf dem Weg zur St.-Pauls-Kirche waren, um dort für das

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