Zeit der Sinnlichkeit
Geld mehr, sondern brachte ihr Lebensmittelgeschenke mit: einen bratfertigen Kapaun, ein Glas mit süßer Pastetenfüllung, eine Portion Butter. Manchmal nahmen wir auch zusammen ein kleines Abendessen bei ihr ein, saßen am offenen Fenster an ihrem Tisch und lauschten auf die Geräusche des Wassers.
»Man merkt«, sagte sie eines Abends, »daß das Lärmen auf dem Fluß zurückkommt.«
Es kam überall zurück. Es war gerade so, als habe London beschlossen, den Tod durch Lachen zu vertreiben. Finn traf in den Kaffeehäusern auf Leute, die lautstark ihre Bereitschaft erkennen ließen, zwanzig oder dreißig Shilling für ein Portrait zu zahlen, da sie wieder an die Zukunft glaubten und sich sogar vorstellen konnten, daß diese Portraits einmal in den Häusern ihrer Enkel an größeren Wänden hängen würden, als sie selbst je in ihrem Leben besitzen würden.
So kamen sie also, einer nach dem andern – Kaufleute, Rechtsanwälte, Lehrer, Tuchhändler, Möbeltischler, Büroangestellte –, und saßen Finn da, wo auch ich ihm gesessen hatte, nämlich bei den leeren Tintenfässern im Schreibzimmer, und Finn verhalf ihnen auf seiner gestohlenen Leinwand zu ihrer Unsterblichkeit. Ich sah sie oft mit den fertiggestellten Bildern das Haus verlassen, und ganz gleich, wie herb ihre Gesichtszüge waren: Durch das Abbild von sich, das sie in den Händen hielten, wurden sie weicher und zufriedener. Als nächstes schickten sie ihre Frauen, um ein Zwillingsportrait auf die andere Seite des Kamins hängen zu kön
nen. Als Finn diese Entwicklung sah, verfiel er wieder in seine alte Gewohnheit, immer noch mehr haben zu wollen, und so stieg der Preis für ein Bild auf fünfunddreißig Shilling, dann auf vierzig und dann auf fünfundvierzig.
Als ich an einem Dienstagabend nach Hause kam, fand ich an der Tür ein drittes Schild vor. Elias Finn , lautete es, Portraitmaler für den aufsteigenden Mann. Finn trank mit Frances Elizabeth Alicante und war von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Abgesehen von dem Hemd und den Schuhen waren alle Kleidungsstücke grün, sogar die Strümpfe. »Ah«, sagte ich, »ich sehe, die Vergangenheit hat dich wieder!« Doch er lächelte nur dünn, was besagen sollte: »Die Zeiten für solche Scherze sind lange vorbei, Merivel.«
In diesem Sommer 1666 spürte ich zum ersten Mal seit geraumer Zeit wieder so etwas wie Zufriedenheit in meinem Leben, als wären wir, mein Leben und ich, jetzt im Einklang. Wenn ich einmal alt bin, werde ich mich an diesen Lebensabschnitt als an »Die Zeit der drei Schilder an der Tür« erinnern.
Und dann zog ein Junimorgen herauf, und danach war fast das ganze Behagen, das ich empfunden hatte, verschwunden.
Es war ein Sonntag. Ich wachte sehr früh auf. Ich blickte zum Fenster hinaus und sah, daß die Sonne noch nicht aufgegangen war, und plötzlich hatte ich den Wunsch (ich kann wirklich nicht sagen, warum) zu sehen , wie sie über dem Fluß auftauchte – ein Anblick, den ich lange entbehrt hatte.
Ich zog mich an, schlich die Treppe hinunter und ging hinaus. In den Straßen herrschte Stille. Ich hörte die Glocke von St. Alphage vier Uhr schlagen. Die Luft war kühl, fast kalt, und ich glaubte schon, daß es überhaupt keinen Sonnenaufgang
zu sehen geben würde. Dennoch lief ich weiter. Am Wasser setzte ich mich auf eine kleine Treppe, an der Ruderboote und Barken anlegen, um ihre Passagiere ein- und aussteigen zu lassen, und wartete. Über dem Fluß lag ein weißer Nebel, der so dicht war, daß ich nicht bis zum anderen Ufer sehen konnte.
Der Himmel wurde heller, und nun konnte ich sehen, daß überhaupt keine Wolken an ihm standen und daß der Sonnenaufgang ohne den Nebel so vollkommen hätte sein können wie jene, die ich so oft von meinem Zimmer in Whitehall aus gesehen hatte.
Ich blickte auf den Nebel, oder glaubte jedenfalls, es zu tun, denn plötzlich stellte ich fest, daß er überall um mich herum war und daß ich selbst, einschließlich der Treppe und der wenigen Boote, die daneben festgemacht waren, in diesem Nebel unsichtbar geworden war. Ich schaute nach oben. Der Himmel war nicht mehr zu sehen. Trotzdem ging ich nicht wieder die Treppe hoch, sondern blieb unbeweglich sitzen. Ich wußte, daß etwas in der Luft lag! Es war, als stehe die Zeit still oder halte den Atem an.
Ich wartete. Ich hörte mein Herz laut schlagen. Der Himmel wurde noch ein wenig heller. Ich fror und schlang meine Arme um mich. Dann hörte ich das Platschen zweier Ruder, das näher
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