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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich also davon. In meine Taschen hatte ich vier oder fünf von den Wachteln gestopft, die mich während
meiner zwölfstündigen Reise bei Kräften halten sollten, und als ich eben losreiten wollte, kam Will mit einer Reiseflasche Alicante herbeigerannt, die ich an meinem Sattel befestigte. »Lebt wohl!« rief ich, schaute jedoch nicht zurück. Die Straße vor mir schlug mich völlig in ihren Bann.
    Um sieben Uhr ritt ich in London ein. Über dem Fluß, dessen Anblick ich so lange entbehrt hatte, erhob sich träge die Sonne, und Dunst stieg über dem Wasser auf. Ich hörte das Fluchen der Schiffer und das Rufen der Leichtermänner, den Schrei der Möwen und das Sichaufplustern der Tauben, und wenn auch meine Schenkel schmerzten und mein Gesäß wund war, so war mein Elan doch ungebrochen.
    So seht mich also, wie ich schließlich in Whitehall ankomme. Ich habe an einem Gasthaus angehalten, um mich zu erleichtern und etwas Wasser zu trinken, da ich plötzlich einen schrecklichen Durst verspürte. Von der Bedienung habe ich mir die Kniehose ausbürsten und die Stiefel abwaschen lassen. Ich habe den Staub aus meiner Perücke geschüttelt und mir Gesicht und Hände mit Seife gewaschen. Als ich den Heilkräutergarten betrete, ist mir ganz ungewöhnlich heiß, und ich frage mich, ob ich gleich verdunsten und mich auflösen und nichts weiter zurücklassen werde als eine fettige Lache. Wieder einmal, wie bei jenem ersten, so schrecklichen Besuch, fühle ich, daß die nahe Gegenwart des Königs die Luft verändert hat. »Allmächtiger Gott«, sage ich und sende eines meiner kleinen Betsignale gen Himmel, »hilf mir atmen.«
    Ich gehe zwischen den gepflegten Buchsbaumhecken entlang, rieche die winterfesten Pflanzen und Kräuter, Lorbeer, Rosmarin, Salbei, Zitronenmelisse und Thymian, und dort, genau in der Mitte des Gartens, gerade damit beschäftigt, sei
ne Uhr nach der Sonnenuhr einzustellen, steht er, der Mann, den ich, wenn ich ein Loch in der Brust hätte wie jenes, das ich in Cambridge gesehen hatte, bitten würde, hineinzugreifen und mein Herz in die Hand zu nehmen.
    Ich gehe auf ihn zu und setze den Hut ab. Ich knie nieder. Mir ist der Hals wie zugeschnürt, so daß ich nicht sprechen kann. Ich schäme mich, weil mir Tränen in die Augen treten. »Sir …«, kann ich schließlich flüstern.
    »Ach, Merivel. Ihr seid es?«
    Ich hebe den Kopf. Ich will nicht, daß der König sieht, daß ich weine, und doch weiß ich, daß er in diesem Augenblick noch weit mehr sehen wird, daß er mit schrecklicher Genauigkeit von meinem Gesicht ablesen kann, in welchem Maße ich unter seiner Vernachlässigung gelitten habe.
    »Ich bin es. Ja, ich bin es, Majestät …«, stammle ich.
    Elegant kommt er zu mir geschritten, dahin, wo ich knie und die rauhe Schlacke des Weges meine Haut wundzuscheuern scheint. Er streckt die Hand nach mir aus und berührt mit seinem Handschuh mein Kinn.
    »Und macht Ihr gute Fortschritte beim Tennisspielen?« fragt er.
    Zu meiner großen Qual fühle ich, wie eine dicke Träne über mein Kinn rollt und seinen Handschuh benetzt.
    »Die Fortschritte wären sicher gut, Sir«, sage ich töricht, »wenn ich auf Bidnold einen Tennisplatz hätte.«
    »Ihr habt dort keinen Tennisplatz? Deshalb werdet Ihr so dick, Merivel!«
    »Bestimmt! Deshalb und wegen meiner Unmäßigkeit, von der ich mich anscheinend nicht befreien kann …«
    In diesem Augenblick bemerke ich, daß die Tasche meines Rocks von den Wachtelresten, die ich nicht entfernt habe,
furchtbar fleckig ist. Ich verdecke sie schnell mit den Federn meines Hutes. Der König lacht. Zu meiner übergroßen Freude. Ich spüre, wie seine Hand mein Kinn losläßt, über meinen Mund nach oben wandert, nach meiner Nase greift und sie kräftig kneift.
    »Steht nun auf«, sagt er, »und kommt mit Uns, Merivel! Es gibt viel zu besprechen.«
    Er führt mich nicht zu seinen Prunksälen, sondern zu seinem Laboratorium, das mich während meiner Zeit in Whitehall immer sehr fasziniert hatte. Dort war des Königs rastloser Geist ständig mit neuen Experimenten beschäftigt, wovon das fesselndste wohl das Fixieren von Quecksilber war. Der Geruch dieses Ortes erinnerte mich an Fabricius' Zimmer in Padua. Dieser hatte gern auf seinem Nachttisch Eidechsen präpariert: Es roch ein wenig nach Kloake oder Grab, und dennoch wurde mein Gehirn davon immer wieder in Erregung versetzt. Ich vermute, es lag daran, daß ich, noch bevor ich mich von der Anatomie abwandte, erkannt hatte, daß

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