Zeit der Sinnlichkeit
zurückzögen, doch Celia wollte bleiben und auf den Vogel aufpassen und wünschte, daß ich bei ihr bliebe.
Ich fühlte mich schrecklich müde. Das Skalpell nur anzufassen, hatte mich schon angegriffen. Ich wollte mich hinlegen und träumen, ich sei ein Russe in einem Mantel aus Wieselfell, im Schnee und ohne Sorgen. Doch was konnte ich machen? In dieser seltsamen Januarnacht wollte meine Frau mit mir zusammensein – zum ersten Mal, seit sie nach Bidnold gekommen war. Ich konnte ihr das nicht verweigern.
Ich kam zu dem Schluß, daß wir, um die Nachtwache zu überstehen, etwas zu essen brauchten. Ich brachte es nicht übers Herz, Cattlebury zu wecken, und so wanderte ich, die Kerze in der Hand und die Decke eng um mich geschlungen, durch die kalten Korridore zur Küche und kam mit einer Fleischplatte mit kalter Wildpastete, ebenfalls kaltem, gebratenem Perlhuhn und ein paar auf Holzkohle gerösteten Schweinswürstchen zurück – und mit einer Flasche Sherry.
Der Kartentisch, der eben noch als Operationstisch gedient hatte, wurde nun zur Speisetafel. Wir aßen mit den Fingern und tranken den Sherry aus der Steinflasche, und die Mahlzeit und die Wärme des Feuers vertrieben den Schmerz aus meinem Rückgrat und röteten Celias Nase auf höchst unschmeichelhafte Weise.
Nach dem Essen sang Celia, und zwar ein sehr schönes Wiegenlied. Als sie es beendet hatte, erzählte sie mir flüsternd von ihrem geheimen Wunsch, vom König ein Kind zu bekommen. Sie habe gerade versucht, diesem davon zu schreiben, als sie das leichte Geräusch gehört habe, mit dem die Nachtigall von der Stange gefallen sei. Sie habe dies als ein Zeichen dafür genommen, daß ihr Tun gefährlich sei, und ihren Brief schnurstracks ins Feuer geworfen; dann sei sie zu mir geeilt, um mich zu wecken. Ich wußte nicht, was ich zu ihrem geheimen Wunsch sagen sollte; er erschreckte mich jedenfalls sehr. So legte ich meinen Kopf auf die Geflügelknochen und schlief sofort ein. Als ich wieder aufwachte, hörte ich Celia weinen.
Ich setzte mich auf. Durch das Fenster fiel graues Licht, der Vorbote des Sonnenaufgangs. Das Feuer war heruntergebrannt. Celia saß nicht mehr am Tisch, sondern kniete neben dem Vogelkäfig. »Er ist tot, Merivel«, sagte sie. »Er ist mausetot.«
Ich kniete neben ihr nieder. Der Vogel lag in einer Lache grünlichen Schleims, seiner letzten Ausscheidung, verursacht durch die Medizin. An der Starre seines Körpers konnte ich sofort erkennen, daß er tatsächlich tot war, aber in Wirklichkeit schenkte ich dem nur wenig Beachtung, denn Celia hatte sich weinend nach vorn fallen lassen und streckte ihre Arme trostsuchend nach mir aus. So kam es, daß ich sie kniend für
drei oder vier Minuten in meinen Armen hielt. Wenn ich sie auch sehr gern geküßt und gestreichelt hätte, so erlaubte ich mir das jedoch nicht; ich drückte nur ihren Kopf an den meinen und streichelte ihr Haar.
Zwei Tage später – wir hatten gerade die indische Nachtigall im Park neben meiner Hündin Minette begraben – begann Schnee zu fallen. Durch diesen Schnee kam auf einem schweren Pferd ein Mann zu meinem Haus geritten. Sein Name war Sir Nicholas Hogg. Er teilte mir mit, daß er Friedensrichter für die Gemeinde Hautbois-le-Fallows mit Bidnold war und daß ich bei der letzten vierteljährlichen Gerichtssitzung – in meiner Eigenschaft als Herr des Landsitzes Bidnold – zum Armenaufseher ernannt worden sei.
Ich bat Richter Hogg in mein Studierzimmer. Ich war an diesem Tag in gedämpfte Farben gekleidet, da Celia auf demi-deuil für die unglückliche Nachtigall bestanden hatte, und so hielt mich Hogg wohl für einen seriösen Mann.
Ich fragte ihn nach meinen Pflichten als Armenaufseher, und er erwiderte, daß sie leichter Natur seien, »da Norfolk zur Zeit nicht von allzuviel armen Leuten verunziert ist«, daß ich aber immer daran denken solle, daß es drei Kategorien von Armen gebe.
»Drei Kategorien?« fragte ich. »Und jeder läßt sich ohne weiteres in eine der drei einordnen?«
»Ja. Denn es gibt in diesem Land ›die schwachen Armen‹, ›die fähigen Armen‹ und die ›müßigen Armen‹.«
»Aha«, sagte ich.
»Von den Aufsehern wird erwartet, daß sie Irrtümer in der Zuordnung vermeiden, denn ein Irrtum bringt einen Mann unweigerlich vors Gericht, wodurch den Richtern ihre kost
bare Zeit gestohlen wird. So laßt Euch denn warnen, daß die meisten Fehler bei der Unterscheidung zwischen den schwachen und den müßigen Armen
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