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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Nachbargemeinden Coote-by-Leyland und Rumworth St. James zuständig sei, eine Zuständigkeit, die ich, wie er mir am Schluß noch mitteilte, mit niemand anderem teile als mit Lord Bathurst, den
er als »ausgezeichneten Aufseher, sehr großzügig mit Kaninchen« beschrieb. Mich brachte die Vorstellung, daß man Bathurst zutraute, einen schwachen von einem müßigen Armen zu unterscheiden, ein wenig aus der Fassung, und ich wollte schon eine Bemerkung über den konfusen Zustand von Bathursts Verstand seit seinem Unfall auf dem Feld machen, als Sir Nicholas zum Fenster meines Studierzimmers ging, in den Schnee hinaussah, der jetzt in dicken Flocken fiel, und erklärte, daß er sich sofort verabschieden müsse, wenn er nicht riskieren wolle, die Straße verschneit und alle Wege zu seinem »Sitz in Hautbois«, wie er sich ausdrückte, unpassierbar zu finden.
    Ich gebe zu, daß ich erleichtert war, ihm und seiner stinkenden Pfeife adieu sagen zu können, doch nachdem er weg war, fühlte ich mich wegen meiner neuen Verpflichtung etwas beunruhigt, da ich keine klare Vorstellung hatte, was ich als Aufseher der Armen zu tun hatte. Wurde von mir erwartet, daß ich auf Danseuse durch die Dörfer ritt und nach Müßigen Ausschau hielt, um diese dann kurzerhand an die Webstühle zu schicken, und nach Schwachen, um diesen dann mit Sixpence und Hühnerkeulen beizustehen? Ich ging nicht allzuoft ins Dorf Bidnold, es sei denn, ich wollte Meg im »Rush-cutter« besuchen, und konnte daher nicht abschätzen, wie viele Mittellose mich nun um Beistand bitten würden. Wenn es nicht so geschneit hätte, wäre ich auf der Stelle auf mein Pferd gestiegen und hätte einen raschen Aufklärungsritt unternommen, doch wollte ich, wie Richter Hogg, nicht in der weißen Wüste verlorengehen und beschloß daher, statt dessen alles niederzuschreiben, was ich über die Armen wußte, was leider nicht sehr viel zu sein schien. Ich nahm einen Federkiel und hielt folgendes fest:
     
     1.
Sie sind zahlreich.
 2.
Sie scheinen zahlreicher in der Hauptstadt zu sein, wo sie sich am Kai drängen und zum Schlafen auf die Stufen der Schenken legen.
 3.
Sie werden leicht krank, wie ich während meiner kurzen Zeit am St.-Thomas-Krankenhaus beobachten konnte.
 4.
In den Augen vieler von ihnen scheint der Wahnsinn gegenwärtig zu sein, und ich vermute, daß Pearces Heilanstalt von ihnen überquillt.
 5.
Von Leuten wie den Winchelseas werden sie als eine andere Rasse, eine ganz andere Spezies Mensch angesehen. Doch es sind die Körper der Armen, von denen die Anatomen ihr Wissen herleiten, und es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß sich die Leber beispielsweise eines Adeligen in ihrer Form oder Funktion, in ihrem Aufbau oder ihrer Beschaffenheit von der eines Hüttenbewohners unterscheidet (es sei denn, die Leber des Adeligen ist durch den Konsum großer Bordeauxmengen vergrößert).
 6.
Jesus liebte sie sehr.
 7.
Es besteht ein interessanter Widerspruch zwischen dem Glauben Gottes an ihren Adel und dem Glauben des Adels an die ihnen innewohnende Schlechtigkeit. (Und das in einem angeblich frommen Land.)
 8.
Ich habe in den siebenunddreißig Jahren meines Lebens nicht allzuviel über sie nachgedacht – bis zu diesem Tag, dem 13. Januar 1665.
 9.
Wie sieht der König sie? Was sagt er in seinem Glaubensbekenntnis, daß alle mit ihrem Los zufrieden sein und nicht zu hoch hinauswollen sollen, über die Armen?
10.
Ich habe gehört, daß es in Bidnold einen Mann ohne Zunge gibt, der zwar gesunde Gliedmaßen hat, aber nicht
sprechen kann, und der alle, denen er begegnet, um ein Almosen bittet. Ist dieser Mann ein schwacher oder ein müßiger Armer? Hat er eine Lizenz? Wenn er keine Lizenz hat, was soll ich mit ihm machen?
     
    Ich hielt inne. Schon meine wenigen Aufzeichnungen zeigten mir, daß die Frage der Armen eine sehr komplizierte war – und ich hätte nie geglaubt, daß ich mich einmal damit beschäftigen würde. Mit einem Seufzer legte ich meinen Federkiel aus der Hand. Wer konnte mir bei diesem Thema, über das ich so wenig zu wissen schien und über das meine Gedanken so schrecklich konfus waren, mit Rat zur Seite stehen? Das konnte natürlich nur Pearce. So nahm ich mit einem weiteren Seufzer meinen Federkiel wieder zur Hand und machte mich daran, an Pearce zu schreiben, womit ich einen Antwortbrief voller Kritik und Hohn heraufbeschwören würde. Diese Aufgabe ermüdete mich schon, bevor ich auch nur damit angefangen hatte – doch ich wurde

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