Zeit der Sinnlichkeit
gemacht werden, denn viele der müßigen Armen werden Schwäche vortäuschen, und so wird eine große Anzahl derjenigen, die dem ungeübten Auge als schwach erscheinen, sich am Ende als müßig erweisen. Ihr versteht mich doch?«
»Ich denke schon.«
»Das ist also Eure wichtigste Aufgabe: richtige Kategorisierung. Angenommen, Ihr seht am Straßenrand einen betteln, wie könnt Ihr erkennen, ob besagte Person zu den Müßigen oder Schwachen gerechnet werden muß?«
Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Ich war kurz versucht, eine frivole Bemerkung der Art zu machen, daß es am Hofe viele gab, denen es unendlich lieber wäre, für müßig gehalten zu werden (was sie ja auch tatsächlich waren) als für schwach und impotent (was einige von ihnen waren, aber mit großem Aufwand zu verheimlichen suchten). Aber ich wollte meine neuen Verpflichtungen wirklich ernst nehmen, und so erwiderte ich schließlich, daß ich zunächst einen Blick auf die Person werfen würde, um festzustellen, in welchem Zustand ihr Körper war, ob verkrüppelt, krank oder verwundet, und daß ich dann nach den näheren Umständen des persönlichen Unglücks fragen würde, das den Betreffenden so weit gebracht hatte, daß er auf der Straße betteln mußte.
Doch Sir Nicholas Hogg schüttelte den Kopf
»Nein, nein!« rief er. »Eine unzuverlässige Methode! Nein und nochmals nein! Es gibt da nur eine Frage, die Ihr dieser Person stellen könnt. Ihr müßt sie fragen, ob sie eine Bettellizenz hat. Und wenn sie Euch diese zeigt, dann müßt Ihr
überprüfen, ob es sich um eine echte, und nicht etwa um eine gefälschte handelt.«
»Aha«, sagte ich, »und wenn sie überhaupt keine Lizenz hat?«
»Dann habt Ihr Eure Antwort! Diese Person gehört nicht zu den Schwachen, sondern zu den Müßigen. Es ist wirklich ganz einfach!«
»Und wie bekommt man eine solche Lizenz, Sir Nicholas?«
»Sie muß bei uns, dem Gericht, beantragt werden. Und jeder einzelne Fall wird uns dann bei unserer vierteljährlichen Sitzung vorgelegt.«
»Und was ist mit dem Mann, den ein Unglück heimgesucht hat, sagen wir mal, daß er bei einer Schlägerei verletzt worden oder beim Pflaumenpflücken vom Baum gefallen ist und sich das Rückgrat gequetscht hat, jedenfalls kann er nicht mehr arbeiten, doch aus dem Almanach ersieht er, daß die nächste Vierteljahressitzung erst in vielen Wochen ist? Wovon soll er in der Zwischenzeit leben, wenn nicht vom Betteln?«
»Das ist eine reine Hypothese, Sir Robert, und ich kenne keinen solchen Präzedenzfall. Auf jeden Fall darf er nicht betteln. Er muß einen anderen Weg finden.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was das für ein Weg sein könnte.«
»Nun gut. Ein solcher Weg kann sein, daß er zu Euch kommt.«
»Und was muß ich dann tun?«
»Gelegentlich ist es die Pflicht des Aufsehers, kleine Summen, in der Größenordnung von Sixpence oder Ninepence, für Wohltätigkeit auszugeben oder, wenn ihm das lieber ist, entsprechende Geschenke zu machen, beispielsweise ein dün
nes Huhn oder einen Schweinefuß, wenn er das für angebracht hält. Aus diesem Grunde werden nur vermögende Männer für die Position des Aufsehers ausgesucht, damit ihr eigener Lebensunterhalt dadurch keinerlei Beeinträchtigung erfährt.«
Sir Nicholas zündete sich jetzt eine stinkende Pfeife an, wodurch ich etwas Zeit hatte, weitere Fragen nach dem Zustand des Armenhauses in Norwich und der Art der dort verrichteten Arbeit zu stellen, da dies ja wohl der Hauptzufluchtsort derjenigen zu sein schien, die Hogg »die fähigen Armen« der Grafschaft nannte. Mir wurde gesagt, daß es ein erstklassiges Armenhaus sei und daß die dort untergebrachten Männer, Frauen und Kinder äußerst fröhlich an ihren Spinnrädern und Webstühlen säßen »und daß sich dort die Wohltätigkeit nicht nur auf ihre arbeitenden Arme und Finger erstreckt, sondern auch auf ihre unwürdigen, müßigen Beine«.
Hogg wischte sich ein paar schwarze Tabakkrümel von den vollen Lippen und fügte dann hinzu: »Leider ist das dortige Krankenasyl, meiner Meinung nach zu Unrecht, in eine Schenke umgewandelt worden, aber man hat mir gesagt, daß die wenigen Kranken in einem angemessenen Schuppen untergebracht sind.«
Ich erkundigte mich, ob es für mich, den Armenaufseher einer kleinen Gemeinde, erforderlich sei, das Armenhaus in Norwich aufzusuchen, und bekam von Sir Nicholas die Antwort, daß ich nur bis zur Grenze zwischen Hautbois-le-Fallows einschließlich Bidnold und den
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