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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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versteckt hat?«
    »Sieben Jahre lang«, sagte sie ein wenig ungeduldig. »Aye, jeder kennt diese Geschichte. Warum?«
    Er zuckte mit den Achseln.
    »Nur so ein Gedanke. Ich war damals noch ein kleines Kind, aber hin und wieder bin ich mit meiner Mutter zu ihm gegangen, um ihm etwas zu essen zu bringen. Er hat sich zwar gefreut, uns zu sehen, aber er hat nicht viel geredet. Und seine Augen haben mir Angst gemacht.«
    Joan spürte, wie ihr ein kleiner Schauder über den Rücken lief, der nicht von der steifen Brise herrührte. Sie sah – sah es plötzlich, in ihrem Kopf – einen hageren, schmutzigen Mann, dessen Gesicht nur Haut und Knochen war und der in den feuchten, kalten Schatten der Höhle hockte.
    »Pa?«, sagte sie spöttisch, um zu überspielen, dass ihr eine Gänsehaut über die Arme lief. »Wie kann man denn vor ihm Angst haben? Er ist doch so ein freundlicher, gütiger Mann.«
    Michaels breiter Mund zuckte.
    »Das kommt wahrscheinlich ganz darauf an, ob man ihn schon einmal kämpfen gesehen hat. Aber …«
    »Habt Ihr das denn?«, unterbrach sie ihn neugierig. »Ihn einmal kämpfen gesehen?«
    »Das habe ich, aye. Aber«, sagte er, denn er wollte sich nicht vom Thema abbringen lassen, »ich habe ja auch nicht gemeint, dass er mir Angst gemacht hat. Ich hatte nur das Gefühl, dass er nicht ganz von dieser Welt war. Dass er die Stimmen im Wind hörte.«
    Das ließ ihr den Speichel im Mund eintrocknen, und sie bewegte ihre Zunge ein wenig und hoffte, dass man es ihr nicht ansah. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen; er sah sie gar nicht an.
    »Mein eigener Pa hat gesagt, es läge daran, dass Jamie so viel Zeit allein verbrachte, dass ihm die Stimmen in den Kopf krochen und er sie nicht aussperren konnte. Wenn er sich sicher genug fühlte, um ins Haus zu kommen, hat es manchmal Stunden gedauert, bis er wieder anfing, uns zu hören – wir durften ihn erst ansprechen, wenn er etwas gegessen und sich aufgewärmt hatte.« Er lächelte ein wenig bedauernd. »Mama meinte, vorher wäre er kein Mensch – und rückblickend glaube ich, dass sie das ganz wörtlich gemeint hat.«
    »Nun«, sagte sie, hielt dann aber inne, weil sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte. Sie wünschte von ganzem Herzen, sie hätte das eher gewusst. Ihr Pa und seine Schwester würden später auch nach Frankreich kommen, doch es war möglich, dass sie sie nicht sehen würde. Vielleicht hätte sie mit Pa sprechen können, ihn fragen können, wie sich die Stimmen in seinem Kopf anhörten – was sie sagten. Ob sie Ähnlichkeit mit den Stimmen hatten, die sie hörte.
    DIE DÄMMERUNG NAHTE, und die Ratten waren immer noch tot. Der Graf hörte, wie die Glocken von Notre Dame zur Sext schlugen, und blickte auf seine Taschenuhr. Die Glocken schlugen zwei Minuten zu früh, und er runzelte die Stirn. Er hasste Nachlässigkeit. Er stand auf, reckte sich und stöhnte, als sein Rückgrat knackte wie die abgehackte Salve eines Exekutionskommandos. Kein Zweifel, er wurde älter – ein Gedanke, bei dem ihn ein Schauder durchlief.
    Wenn. Wenn er den Weg vorwärts finden konnte, dann würde vielleicht … Aber man wusste es nie, das war der teuflische Haken daran. Kurze Zeit lang hatte er gedacht – gehofft –, dass der Alterungsprozess zum Halten kam, wenn man in der Zeit zurückreiste. Das erschien ihm anfangs logisch, wie wenn man eine Uhr zurückdrehte. Andererseits aber war es nicht logisch, denn er war immer in die Zeit vor seiner Geburt gereist. Nur einmal hatte er versucht, nur ein paar Jahre zurückzugehen, in die Zeit, als er Anfang zwanzig war. Das war ein Fehler gewesen, und er erschauerte heute noch bei der Erinnerung daran.
    Er trat an das große Giebelfenster, das auf die Seine hinausblickte.
    Dieser Ausblick auf den Fluss hatte sich in den letzten zweihundert Jahren kaum verändert; er hatte ihn zu diversen Zeiten gesehen. Das Haus hatte ihm zwar nicht immer gehört, aber es stand schon seit 1620, und jedes Mal war es ihm zumindest gelungen, sich kurz Zutritt zu verschaffen, wenn auch nur, um sich nach einer Passage wieder in der Wirklichkeit zurechtzufinden.
    Nur die Bäume veränderten sich in seinem Bild des Flusses, und manchmal kam ein seltsam aussehendes Boot. Doch der Rest war immer gleich und würde zweifellos auch immer so bleiben: die alten Angler, die auf dem Landesteg stur vor sich hin schwiegen, während sie ihr Abendessen fingen und ihren Stammplatz mit ausgestreckten Ellbogen verteidigten, die jüngeren

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