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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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werden.
    Jemand stieß ihren Ellbogen an, und als sie zur Seite blickte, sah sie, dass Michael ihr ein Taschentuch anbot. Es war wirklich kein Wunder, wenn ihr die Augen liefen – aye, und die Nase –, bei diesem Wind. Sie nahm das Stückchen Stoff mit einem knappen Kopfnicken entgegen, wischte sich kurz über die Wangen und schwenkte ihr Halstuch noch heftiger.
    Aus Michaels Familie war niemand da, um ihm zum Abschied zuzuwinken, nicht einmal seine Zwillingsschwester Janet. Aber sie waren halt alle mit dem beschäftigt, was nach dem Tod des alten Ian Murray zu tun war, kein Wunder also. Und es war sowieso nicht dringend nötig, Michael zum Schiff zu begleiten – Michael Murray war Weinhändler in Paris und ein wunderbar weitgereister Herr. Sie tröstete sich mit der Gewissheit, dass er wusste, was zu tun war und wohin sie gehen mussten. Er hatte gesagt, er würde sie unbehelligt im Konvent der Engel abliefern, denn der Gedanke, sich allein ihren Weg durch Paris zu suchen, wo die Straßen voller Menschen waren, die alle Französisch sprachen … obwohl sie natürlich gut Französisch konnte. Sie hatte es den ganzen Winter über gelernt, und Michaels Mutter hatte ihr geholfen. Allerdings würde sie der Äbtissin besser nichts von den französischen Romanen erzählen, die Jenny Murray in ihrem Bücherregal hatte.
    » Voulez-vous descendre, mademoiselle?«
    »Häh?« Sie sah Michael an, der auf die Treppe zeigte, die nach unten führte. Blinzelnd wandte sie sich zurück – doch das Kai war verschwunden und mit ihm ihre Mutter.
    »Nein«, sagte sie. »Noch nicht. Ich möchte noch …« Sie wollte das Land sehen, so lange sie konnte. Es würde das Letzte sein, was sie je von Schottland sah – ein Gedanke, bei dem sich ihr Magen zu einer kleinen festen Kugel zusammenballte. Sie wies mit einer vagen Geste auf die Leiter. »Geht nur. Ich komme schon allein zurecht.«
    Doch er ging nicht, sondern stellte sich neben sie und umklammerte die Reling. Sie wandte sich ein wenig von ihm ab, damit er sie nicht weinen sah, doch eigentlich tat es ihr nicht leid, dass er geblieben war.
    Keiner von ihnen sagte etwas, und langsam versank das Land, als ob die See es verschlang, und jetzt war ringsum nichts mehr als das offene Meer, das glasig grau unter den dahinrasenden Wolken wogte. Ihr wurde schwindelig von diesem Anblick, und sie schloss die Augen und schluckte.
    Lieber Herr Jesus, gib, dass ich mich nicht übergeben muss!
    Sie hörte ein leises Geräusch neben sich, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Michael Murray sie besorgt betrachtete.
    »Ist Euch nicht gut, Miss Joan?« Er lächelte schwach. »Oder sollte ich Euch Schwester nennen?«
    »Nein«, sagte sie, bezwang ihre Nerven und ihren Magen und richtete sich auf. »Noch bin ich ja keine Nonne, oder?«
    Er betrachtete sie von oben bis unten mit der unverblümten Art der Highlandmänner, und wieder lächelte er, diesmal breiter.
    »Habt Ihr denn schon einmal eine Nonne gesehen ?«, fragte er.
    »Nein«, sagte sie, so steif sie konnte. »Gott und die Heilige Jungfrau habe ich auch noch nie gesehen, aber an sie glaube ich ebenfalls.«
    Sehr zu ihrem Ärger brach er in Gelächter aus. Doch als er den Ärger in ihrem Gesicht sah, hörte er sofort auf, auch wenn sie es hinter seinem aufgesetzten Ernst immer noch beben sehen konnte.
    »Ich bitte um Verzeihung, Miss MacKimmie«, sagte er. »Ich hatte nicht vor, die Existenz von Nonnen in Zweifel zu ziehen. Ich habe schon viele dieser Kreaturen mit meinen eigenen Augen gesehen.« Seine Lippen zuckten, und sie funkelte ihn an.
    »Kreaturen, wie?«
    »Eine Redensart, mehr nicht, das schwöre ich! Vergebt mir, Schwester, denn ich weiß nicht, was ich tue!« Er hob die Hand und zog in gespieltem Schrecken den Kopf ein. Das Bedürfnis, ihrerseits zu lachen, verschlechterte ihre Laune weiter, aber sie begnügte sich mit einem schlichten, missbilligenden Mmpfm .
    Doch ihre Neugier gewann die Oberhand, und nachdem sie ein paar Momente das schäumende Kielwasser des Schiffes betrachtet hatte, fragte sie, ohne ihn anzusehen: »Als Ihr die Nonnen gesehen habt – was haben sie denn da getan?«
    Er hatte sich jetzt wieder im Griff und antwortete ihr ernst.
    »Nun, ich sehe zum Beispiel die Schwestern von Notre Dame, die sich ständig um die Armen auf der Straße kümmern. Sie sind immer zu zweit unterwegs, und beide Nonnen haben große Körbe dabei, mit Essbarem, nehme ich an – vielleicht dazu Arzneien? Aber sie sind zugedeckt –

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