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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Am Ende der Mahlzeit hatte die Ordensmutter sie in der Gemeinschaft willkommen geheißen und ihr die Stirn geküsst, bevor sie sie Schwester Eustacia anvertraute, die ihr den Konvent zeigte.
    Jetzt lag sie auf ihrem schmalen Bett im Dormitorium und lauschte dem Atem eines Dutzends anderer Postulantinnen. Es klang wie eine Scheune voller Kühe und hatte nahezu fast denselben warmen, feuchten Geruch – nur ohne den Dung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, denn plötzlich sah sie den gemütlichen Steinstall in Balriggan deutlich vor sich. Doch sie schluckte sie herunter und presste die Lippen zusammen. Einige der Mädchen schluchzten leise, weil sie Heimweh hatten, doch sie wollte nicht dazugehören. Sie war älter als die meisten hier – einige waren kaum mehr als vierzehn –, und sie hatte Gott versprochen, tapfer zu sein.
    Der Nachmittag war gar nicht so schlimm gewesen. Schwester Eustacia war sehr gütig gewesen und hatte sie gemeinsam mit ein paar anderen neuen Postulantinnen über das eingemauerte Anwesen geführt, ihnen den großen Garten gezeigt, in dem der Konvent Heilkräuter und Obst und Gemüse für die Tafel anbaute, die Kapelle, in der sechsmal täglich gebetet und morgens die Messe gelesen wurde, die Stallungen und die Küche, wo sie abwechselnd arbeiten würden – und das große Hôpital des Anges , das wichtigste Betätigungsfeld des Ordens. Doch sie hatten das Hôpital nur von außen gesehen; das Innere würden sie morgen gezeigt bekommen, wenn ihnen Schwester Marie-Amadeus ihre Aufgaben erklären würde.
    Natürlich war es ungewohnt – sie verstand nach wie vor nur die Hälfte dessen, was die Leute zu ihr sagten, und ihren Mienen nach war sie sicher, dass die Leute noch viel weniger von dem verstanden, was sie ihnen zu sagen versuchte –, aber auch wundervoll. Wundervoll die Vorstellung der spirituellen Disziplin, der Gebetsstunden, in denen sich ein Gefühl des Friedens und der Einheit über die Schwestern senkte, während sie gemeinsam beteten. Wundervoll die schlichte Schönheit der Kapelle, erstaunlich in ihrer klaren Eleganz, die festen Umrisse aus Granit und die Anmut des geschreinerten Holzes, der schwache Weihrauchduft wie der Atem der Engel.
    Die Postulantinnen beteten zwar gemeinsam mit den anderen Nonnen, aber sie sangen noch nicht. Doch sie würden eine musikalische Ausbildung bekommen, wie aufregend! Es hieß, Mutter Hildegarde sei in ihrer Jugend eine berühmte Musikerin gewesen, und Musik sei für sie eine der bedeutendsten Formen der Hingabe.
    Der Gedanke an all das Neue, was sie gesehen hatte, an all das Neue, was noch kommen würde, lenkte sie – zumindest ein wenig – von den Gedanken an die Stimme ihrer Mutter ab, an den Wind im Moor … Sie schob sie hastig beiseite und griff nach ihrem neuen Rosenkranz, dessen große Holzperlen sich glatt und tröstend in ihre Finger schmiegten.
    Vor allem herrschte Frieden. Sie hatte kein Wort von den Stimmen gehört, nichts Außergewöhnliches oder Alarmierendes gesehen. Sie war nicht so töricht zu glauben, dass sie ihrer gefährlichen Gabe entronnen war, doch wenigstens war hier vielleicht Hilfe zur Hand, wenn – falls – sie zurückkehrte.
    Und immerhin konnte sie genug Latein, um ihren Rosenkranz korrekt zu beten; Pa hatte ihr die Worte beigebracht. » Ave Maria «, flüsterte sie, » gratia plena. Dominus tecum «, und schloss die Augen, während das Schluchzen der Heimwehkranken leiser und leiser wurde und ihr die Perlen langsam und lautlos durch die Finger glitten.
    Am nächsten Tag
    MICHAEL MURRAY STAND im Mittelgang des Lagerhauses und kam sich klein und unwirklich vor. Er war mit fürchterlichen Kopfschmerzen aufgewacht, das Resultat der Tatsache, dass er eine große Menge gemischter Spirituosen auf leeren Magen getrunken hatte. Inzwischen war der Kopfschmerz zwar bis auf ein dumpfes Dröhnen im Inneren seines Hinterkopfes zurückgegangen, doch er fühlte sich, als wäre er niedergetrampelt und für tot liegen gelassen worden.
    Sein Vetter Jared, der Eigentümer von Fraser et Cie, betrachtete ihn mit dem kalten Blick langer Erfahrung, schüttelte den Kopf und seufzte tief, sagte aber nichts, sondern nahm ihm nur die Liste aus den gefühllosen Fingern und begann selbst zu zählen.
    Er wünschte, Jared hätte mit ihm geschimpft. Immer noch bewegten sich alle um ihn herum auf Zehenspitzen, nahmen Rücksicht auf ihn. Und wie ein feuchter Verband auf einer Wunde hielt ihre Rücksicht die Wunde, die Lillies Verlust bedeutete,

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