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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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offen und nass. Léonies Anblick war genauso wenig hilfreich – im Aussehen Lillie so ähnlich, charakterlich so anders. Sie sagte, sie müssten einander beistehen, einander trösten, und zu diesem Zweck besuchte sie ihn jeden zweiten Tag, zumindest schien es ihm so. Er wünschte wirklich, sie würde … einfach nur verschwinden, auch wenn ihn der Gedanke mit Scham erfüllte.
    »Wie geht es denn der kleinen Nonne?« Jareds Stimme, trocken und sachlich wie immer, riss ihn aus seinen schmerzenden, trüben Gedanken. »Hast du sie anständig eingeführt?«
    »Aye. Nun – aye. Mehr oder weniger.« Michael brachte ein schwaches Lächeln zuwege. An Schwester Joan-Gregory wollte er heute Morgen lieber auch nicht denken.
    »Was hast du ihr denn mitgegeben?« Jared reichte die Liste an Humberto, den italienischen Lagermeister, weiter und betrachtete Michael dann abschätzend. »Ich hoffe, es war nicht der neue Rioja, der dir das angetan hat.«
    »Äh … nein.« Michael bemühte sich um Konzentration. Ihm wurde jetzt schwindelig in der berauschenden Atmosphäre des Lagerhauses und den fruchtigen Ausdünstungen der reifenden Fässer. »Es war Moselwein. Zum Großteil. Sherry. Und ein bisschen Rumpunsch.«
    »Oh, verstehe.« Jareds betagter Mundwinkel verzog sich nach oben. »Habe ich dir noch nie gesagt, dass du Wein und Rum nicht mischen sollst?«
    »Jedenfalls noch nicht öfter als zweihundertmal, nein.« Jared hatte sich in Bewegung gesetzt, und Michael folgte ihm gezwungenermaßen durch den schmalen Mittelgang, an dessen Seiten sich die aufeinandergestapelten Fässer in langen Reihen erhoben.
    »Rum ist ein Dämon. Aber Whisky ist ein tugendhafter Trunk«, sagte Jared und blieb vor einem Regal mit kleinen, geschwärzten Fässern stehen. »Solange er ordentlich gemacht ist, wird er sich nie gegen dich wenden. Apropos …« Er klopfte auf den Deckel eines Fasses, das ihm mit einem vollen Klang antwortete. »Was ist denn das? Es ist heute Morgen von den Docks gekommen.«
    »Oh, aye.« Michael erstickte einen Rülpser und lächelte schmerzvoll. »Das, Vetter, ist der Ian Alastair Robert MacLeod Murray-Gedächtnis- uisge-baugh . Mein Pa und Onkel Jamie haben ihn im Winter gemacht. Sie dachten, du hättest vielleicht gern ein Fässchen für deinen persönlichen Gebrauch.«
    Jared zog die Augenbrauen hoch, und er warf Michael einen raschen Seitenblick zu. Dann wandte er sich wieder dem Fass zu und beugte sich darüber, um an der Stelle zu riechen, wo sich der Deckel und die Dauben trafen.
    »Ich habe ihn schon probiert«, versicherte ihm Michael. »Ich glaube nicht, dass er dich vergiften wird. Aber du solltest ihn vielleicht ein paar Jahre reifen lassen.«
    Jared stieß einen Kehllaut aus, und seine Hand legte sich sanft auf die Wölbung der Dauben. Einen Moment blieb er so stehen, als wollte er das Fass segnen, dann drehte er sich plötzlich um und nahm Michael in die Arme. Auch er atmete rau, denn der Schmerz schnürte ihm die Kehle zu. Er war viele Jahre älter als Pa und Onkel Jamie und kannte sie beide, seit sie lebten.
    »Das mit deinem Vater tut mir leid, Junge«, sagte er kurz darauf, ließ los und klopfte Michael auf die Schulter. Er sah das Fass an und holte tief Luft. »Ich kann riechen, dass er gut wird.« Er hielt inne und atmete langsam ein und aus, dann nickte er, als hätte er einen Entschluss gefasst.
    »Mir ist da ein Gedanke gekommen, a charaid . Er geht mir schon durch den Kopf, seit du nach Schottland gefahren bist – und jetzt, da du ja sozusagen eine Verwandte in der Kirche hast … Begleite mich in meine Schreibstube, und ich sage es dir.«
    ES WAR KALT auf der Straße, deren Häuserwände die Sonne verdeckten, doch im Hinterzimmer des Goldschmieds war es heimelig wie im Schoß einer Mutter, denn dort verbreitete ein Porzellanöfchen pulsierende Wärme, und die Wände waren mit Webteppichen verhangen. Rakoczy befreite sich hastig von seinem Schal; es war nicht gut, wenn man innen schwitzte; der Schweiß kühlte sich ab, sobald man wieder ins Freie kam, und schon hatte man sich bestenfalls die Grippe, schlimmstenfalls eine Lungenentzündung geholt.
    Rosenwald war bequem mit Hemd und Weste bekleidet und trug noch nicht einmal eine Perücke, nur einen pflaumenfarbigen Turban, der ihm die kahl geschorene Kopfhaut wärmte. Mit Stummelfingern zeichnete der Goldschmied die Umrisse des achteckigen Silbertabletts nach, drehte es um – und erstarrte. Rakoczy spürte ein warnendes Kribbeln und zwang sich, sich zu

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