Zeit der Teufel
Professor Zamorra mehr gab. Aber abgesehen von seinem eigenen Leben wollte er nicht einfach alles aufgeben, wofür er drei Jahrzehnte lang gekämpft und gearbeitet hatte, wollte es nicht einfach verschwinden lassen. Es würde nicht einmal Spuren und Erinnerungen geben.
Alles ausgelöscht, unwiederbringlich verloren.
Und Nicole, die Frau, die ihn liebte?
Die Frau, die er damals als Sekretärin engagiert hatte, die so skeptisch gewesen war allem gegenüber, womit er zu tun hatte, und die ihn dennoch unterstützte … Es hatte lange gedauert, bis sie sich näher kamen, bis das distanzierte »Sie« zwischen ihnen fiel. Und noch länger, bis sie sich dann gegenseitig eingestanden, sich zu lieben. Und diese Liebe dauerte an. Eine stille Glut, die durch nichts zu löschen war. Grenzenloses Vertrauen in jeder Hinsicht. Wenn er einem hübschen Mädchen nachschaute oder mit anderen Frauen flirtete, wusste Nicole, dass er sich da allenfalls Appetit holte, um dann doch bei ihr zu naschen. Umgekehrt war es dasselbe. Sie waren einander bedingungslos treu. Sie gehörten zusammen wie Körper und Seele. Es gab nichts außer dem Tod, das sie trennen konnte.
Und dem wollte er keine Chance geben.
»Ist dir eigentlich klar, dass wir gerade in einer Real-Phase sind?«, fragte Nicole leise.
Zamorra nickte. Wenn Snyder behauptete, bei Zamorra studiert zu haben, und wenn auf diesem Grabstein ein anderer Name stand, waren sie von einer Sekunde zur anderen wieder in die Realität zurückgeglitten. Das bedeutete aber auch, dass sie sich zumindest den ganzen Vormittag über in der falschen Wirklichkeit aufgehalten hatten! Die Phasen dauerten immer länger an.
Das zeigte Zamorra, dass es immer gefährlicher wurde, dass sie nicht mehr sehr viel Zeit verlieren durften.
Er griff unter sein Hemd und löste Merlins Stern von der silbernen Halskette. Vor fast einem Jahrtausend hatte der Zauberer Merlin einen Stern vom Himmel geholt und aus der Kraft einer entarteten Sonne diese magische Waffe geschaffen. Eine handtellergroße Silberscheibe, die in ihrem Zentrum einen stilisierten Drudenfuß zeigte, umgeben von einem Kreis mit den Symbolen der zwölf Tierkreiszeichen und einem Band mit leicht erhaben gearbeiteten, seltsamen Hieroglyphen, die bisher jedem Entzifferungsversuch getrotzt hatten. Verblüffende magische Kräfte waren in diesem Amulett verborgen; nach all den Jahren kannte Zamorra immer noch nicht alle Möglichkeiten, über welche die Silberscheibe verfügte. Aber oft genug hatte sie ihn und Nicole geschützt und ihnen das Leben gerettet.
Zamorra trat an den Grabstein heran und berührte ihn mit Merlins Stern .
»Was tun Sie da?«, fragte Snyder.
Zamorra antwortete nicht. Mit einem Gedankenbefehl aktivierte er die Silberscheibe und fokussierte ihre Kraft auf den Grabstein. Zunächst reagierte das Amulett nicht; weder erwärmte es sich noch vibrierte es. Also kein Hinweis auf Schwarze Magie.
Aber dann schien sekundenlang die Inschrift auf dem Stein zu verschwimmen. Der Name Mary Wallau verschwand, machte einem Zamorra deMontagne Platz. Aber im nächsten Moment war es schon wieder vorbei.
»Was zum Teufel war das?«, entfuhr es Snyder.
»Wenn Sie bei mir studiert und sogar Ihren M.A. gemacht haben, müsste es Ihnen eigentlich klar sein«, sagte Zamorra. »Es handelt sich um die paratemporale Überlappung einer Semirealität mit progressiver Probabilität.«
»Bitte, was?«
»Herr Professor beliebten zu scherzen«, warf Nicole ein. »Diesen terminus technici gibt es natürlich nicht. Fakt ist aber, dass es sich hier offenbar um Realitätsverschiebungen handelt.«
»Was meinen Sie damit?«
»Stellen Sie sich vor, es gäbe eine andere Welt, in der Sie jetzt gerade Urlaub machen. Von einem Moment zum anderen befinden Sie sich aber nicht mehr dort, sondern hier, im nächsten aber wieder dort.«
»Das ist doch Unsinn«, grummelte der Reporter. »So etwas gibt es überhaupt nicht.«
»Wenn Sie meinen … trotzdem danken wir Ihnen dafür, dass Sie uns dieses Grab gezeigt haben.«
»Und was tun Sie jetzt? Es freilegen, um herauszufinden, ob es Ihre Knochen oder die dieser Mary Wallau sind, die da im Sarg verfaulen?«
»Was wir jetzt tun? Wir bitten Sie, uns zur Redaktion zurück zu bringen. Das ist alles«, sagte Zamorra.
Während der Rückfahrt war er sehr schweigsam.
Die Besuche bei den beiden anderen Redaktionen verliefen nicht sehr viel anders. Am späten Nachmittag fanden sie sich wieder im Hotel ein. Nicole ließ
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