Zeit der Wut
aber er antwortete nicht. Durch die Glastür des Salons sah er, wie sie wieder hereinkam, mit dem Kommandanten sprach. Mit einer ironischen Geste hob er die Flasche in ihre Richtung. Er hatte den Eindruck, dass sie ihm einen verächtlichen Blick zuwarf, aber vielleicht täuschte er sich. Mittlerweile war er eindeutig betrunken. Mastino kam vorbei, sie tauschten einen müden Gruß. Corvo und Rainer gingen vorbei, sie schleppten eine etwas verlebt aussehende Mulattin ab. Die WUT grummelte zustimmend. Wenn es eine Probe gewesen war, hatte er sie bestanden. Er hatte die Grenze erkannt, sofern es überhaupt eine gab. Hierarchie. Respekt. Man berührte nicht die Frau des Kommandanten. Man verletzte nicht die Regeln. Die Gäste kamen und gingen. Die Nacht war kühl, die Nacht war einsam. Ein Gefühl der Macht überkam ihn, eine erregende Euphorie. Ich kann auf meinem Posten stehen. Ich bin nicht käuflich. Alles, was ich bis jetzt gemacht habe, hat einen Grund. Auch der tote Neger. Die Nacht war kalt. Der Zustand der Verwirrung ging in einen traumlosen Schlaf über. Weitere Gäste gingen vorbei, warfen dem Vieh, das mit der leeren Flasche zu Füßen auf der Bank schnarchte, einen mitleidigen Blick zu. Als er aufwachte, zitterte er vor Kälte. In der Villa brannte kein Licht mehr. Irgendwo im Park war leises Schluchzen zu hören. Schwankend ging er auf dem Weg, der von den verglimmenden Fackeln beleuchtet wurde, in Richtung Tor. Das Schluchzen wurde lauter. Zur Linken war ein kleiner Pavillon. Alissa saß darin. In Embryohaltung kauerte sie auf einem Stuhl. Neben ihr ein aufgeklapptes Handy. Auf dem Display eine Nachricht in einer unverständlichen Sprache. Ihr Schluchzen war verzweifelt, untröstlich. Er setzte sich neben sie. Sie ergriff seine Hand. Er drückte sie an sich, versuchte das heftige Schluchzen zu beruhigen. Während er ihr über die Haare strich, überkam ihn plötzlich der Wunsch, sie zu beschützen.
– Ist ja gut, alles ist gut …
Aber nichts war gut. Das waren nur Worte. Alissa war irgendwo anders. In einer Welt des Schmerzes, aus der er ausgeschlossen war. Sie spürte ihn, sie ließ sich seine Zärtlichkeiten gefallen, sah ihn aber nicht. Das Handy gab eine dumme, ärgerliche Musik von sich. Marco hob das Gerät auf. Sie riss es ihm aus der Hand und warf es in die Dunkelheit.
–
My brother … my brother
…
Und als würde sie erst jetzt seine Anwesenheit bemerken, nahm sie plötzlich seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn.
– Bring mich weg von hier.
Er half ihr aufzustehen. Draußen auf der Straße stand der Kommandant. An eine lange Limousine mit verdunkelten Scheiben gelehnt rauchte er eine Zigarre. Als Marco ihn sah, wurde er steif, als würde er Habtachtstellung annehmen. Der Kommandant deutete einen kurzen Gruß an. Alissa ließ Marcos Hand los und schlüpfte mit gesenktem Kopf in die Limousine.
Noch in dieser Nacht, während der Kommandant von seinen Auftraggebern den Befehl erhielt, die Operation
Prince of Persia
zu beschleunigen, wurde Alissa wieder von dem Albtraum heimgesucht. Sie befand sich wie immer in der Höhle. Wie immer war im Hintergrund Licht. Schatten tanzten an den Wänden. Lachen, Angstschreie, das Knattern von Maschinengewehren, das dumpfe Geräusch der Haubitzen. Der Lichtkegel einer Taschenlampe fiel in die Dunkelheit, beleuchtete Stroh, Kot, die Hufe eines Esels, einen Kaninchenkäfig. Hinter einem Heuhaufen kauerte ein Mädchen. Daneben auf dem Rücken liegend die Leiche ihres Vaters. Das Mädchen weinte. Das Echo eines Lachens.
7.
Es war ein schöner spätherbstlicher Sonnenuntergang, aber es war noch immer so heiß, dass die Zikaden gar nicht bemerkten, dass der Sommer vorbei war. Ihr betäubendes Konzert schwoll immer wieder unvermutet an, wie ein Militärmarsch, der Lupo und Guido begleitete, während sie die Pappelreihe auf und ab gingen. Der Polizist war ungewöhnlich schlecht gelaunt, abweisend.
– Ich muss entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht. Geben Sie mir eine Antwort.
– Ich habe es Ihnen ja schon gesagt. Ich werde nicht kollaborieren.
– Ich habe Ihren Vater gekannt, wissen Sie das?
Guido spürte, wie eine dumpfe Wut von ihm Besitz ergriff.
– Dann wissen Sie ja, was er für ein Arschloch war.
– Schlecht über den eigenen Vater zu sprechen, ist etwas ganz Natürliches. Aber hin und wieder trauert man ihm letzten Endes doch nach …
– Nicht meinem. Glauben Sie mir, dafür kannte ich ihn zu gut.
– Und hin und wieder stellt
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