Zeit der Wut
das Lächeln des Polizisten ansteckend, oder vielleicht verspürte Guido tief in seiner Seele keinen anderen Wunsch als mit jemandem zu reden.
– Ich war vierzehn Jahre alt. Der Sommer war endlos lang und langweilig. Nachts lief ich heimlich in die Strega del Mare, eine In-Disco. Ich war groß für mein Alter, und außerdem kannten alle meine Eltern, deshalb kam ich problemlos hinein. Die Villa Vittoria war der Familienstolz, das wertvollste Juwel … mein Großvater Guido hatte sie gebaut. Der Vater meiner Mutter. Ein Faschist der ersten Stunde, der Italo Balbo „Söhnchen“ nannte. Der Name Vittoria bezog sich auf den Sieg im Ersten Weltkrieg. Oder, wie böse Zungen behaupteten, auf eine der Tänzerinnen, die mein Großvater flachgelegt hatte …
– Ich hasse ordinäre Reden. Im Übrigen passen sie nicht zu Ihnen.
Lupo hörte aufmerksam zu, die Mischung aus Trauer und Verachtung, die in Guidos Worten mitschwang, machte ihn neugierig. Und während der Junge erzählte, sah er vor seinem geistigen Auge die üppigen Salons, die Wände, an denen Gemälde der Römischen Schule hingen (als „grauenhafte Moderne“ hatte sie der Großvater bezeichnet), die fünfzehn Schlafzimmer, die monumentalen Bäder, die mit allem Schnickschnack ausgestatteten Küchen. Das kleine Heer der Diener, Küchengehilfen, Gärtner, das Signorina Boni unterstand, der Gouvernante aus den Abruzzen, die zuerst das Kindermädchen seiner Mutter und dann sein eigenes gewesen war, eine Frau, die nicht größer als eins fünfzig war, der das Befehlen jedoch im Blut lag …
– Ich kenne den Typ.
Das Haus war das ganze Jahr über geschlossen, außer im Sommer, wenn ein paar Freunde auf Besuch kamen, und in der Woche in der das große Ferragosto-Fest gefeiert wurde. Da kam sogar die holländische Königin, die gleich in der Nähe ein Haus hatte, und später schauten auch noch Suni Agnelli und Inge Feltrinelli vorbei. Mitte der Achtzigerjahre hatte sein Vater den Neureichen die Tür geöffnet. Seine Mutter hasste sie, aber wenn man ganz oben bleiben wollte, musste man mit ihnen Geschäfte machen.
– Irgendwann habe ich das alles nicht mehr ausgehalten. Und ich habe gesagt, es reicht.
– Weil Sie es sich leisten konnten.
Guido schwieg, verwirrt. Mehr oder weniger dasselbe hatte auch Rossana zu ihm gesagt. Und auf geheimnisvolle Weise hatte die Erinnerung auch ein leichtes Bedauern in ihm ausgelöst. Der Bulle war nicht nur höflich. Er war auch sehr geschickt, viel zu geschickt.
Von nun an trafen sie sich regelmäßig, fast jeden Tag. Der Bulle war geduldig. Er hörte zu, stellte nur die notwendigsten Fragen, hin und wieder ließ er sich zu einer sarkastischen, wenn nicht gar zynischen Bemerkung hinreißen.
– Diese Geschichte, dass sie davon träumten, einem Polizisten oder einem Staatsanwalt eine Kugel in den Kopf zu jagen … Entschuldigung, wenn ich Ihnen das so sage, aber Sie verfügen wirklich nicht über die
physique du rôle
eines Mörders.
Guido musste zugeben, dass dieser Polizist – oder vielleicht Carabiniere oder Geheimagent – aus ganz anderem Holz geschnitzt war. Deshalb wurde er noch vorsichtiger, passte auf, keine Bemerkung fallen zu lassen, die ihm schaden konnte. Der Polizist war schlau. Aber Guido gab nicht klein bei. Er dachte an Rossana, die von seinen Kollegen geschlagen, erniedrigt, vergewaltigt worden war, und gab nicht nach. Eines Nachmittags schließlich schlug ihm der Polizist ein Übereinkommen vor.
– Liefern Sie mir das Mädchen aus, und ich gebe Ihnen das Leben zurück.
– Sie meinen die Freiheit?
– Nein. Ich meine wirklich … das Leben.
– Ich verstehe nicht.
– Im richtigen Augenblick werden Sie verstehen. Also?
– Ich weiß nicht, wovon Sie reden.
– Ich könnte effektivere Methoden anwenden, glauben Sie mir. Es gibt Spezialisten bei der Behandlung des menschlichen Körpers, Medikamente, die Hemmungen beseitigen … ich könnte sie jederzeit anwenden.
– Und warum tun Sie es nicht?
– Weil es Grenzen gibt, und ich sie nicht übertreten möchte. Weil das die Methoden der anderen sind, derer, die Ihnen zuerst den Auftrag gegeben haben, einen meiner besten Freunde umzubringen, und Ihnen dann eine Kugel verpasst haben.
– Wer sind die anderen? Und wer sind Sie?
– Wollen Sie das wirklich wissen?
– Was glauben Sie?
– Ich bin der Staat, und in gewisser Weise sind es die anderen auch. Ich bitte Sie, eine Entscheidung zu treffen.
Guido schüttelte den Kopf. Zwischen ihren
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