Zeit der Wut
Auffassungen lag ein Abgrund. Der Polizist hielt sich für einen aufrichtigen Demokraten. Vielleicht war er das auch. Aber gerade deshalb konnte er jemanden wie Guido nicht akzeptieren. Er konnte nicht verstehen, dass sie von einer Welt ohne Uniformen, Befehle, Regeln, Gesetze träumten. Ohne Leute wie diesen Polizisten …
– Ich habe meine Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen.
Den Staat kann man nicht ändern. Den Staat kann man nur beseitigen.
4.
Der Abend, an dem Marco Alissa weinen gesehen hatte, begann wie jeder andere auch. Mit einem Empfang – dieses Wort verwendete die Hausherrin, eine kleine Frau mit einem Lächeln, das infolge von Botox ganz starr war – in einem kleinen Palazzo an der Via dei Villini. Bei seiner Ankunft hatte Marco die Videokameras an der Gartenmauer bemerkt und einen Jeep voller Kollegen, die vor dem Tor Wache hielten. Ein von Fackeln gesäumter Weg führte durch den Park zum Haupthaus. Die Hausherrin hatte ihm sofort ihre Tochter vorgestellt, die genauso klein war wie sie und beeindruckend dünn, magersüchtig zweifellos. Als die Magersüchtige bei den ersten Worten des Gesprächs kapierte, dass er den unteren Chargen angehörte, drehte sie ihm den Rücken zu und wandte sich einem uniformierten Offizier der Streitkräfte zu. Das waren sie nämlich alle: untere Chargen, deren Bestimmung es war zu strahlen durch das reflektierte Licht des Kommandanten. Marco hatte es akzeptiert. Er fühlte sich wohl inmitten der Menschen, die seinen Gruß mit affektierter Herablassung erwiderten oder sich hin und wieder dazu herabließen, ihn in einer unbedeutenden Angelegenheit nach seiner Meinung zu fragen. Er empfand sogar einen Hauch von Sympathie für den schwulen Opus-Dei-Arzt: Seine Avancen, die er systematisch abwehrte, riefen eine Art belustigter Zärtlichkeit in ihm hervor. Der Kommandant hatte ihm vor allen die Hand gedrückt und ihm zu der Festnahme von Bruder Hamid beglückwünscht. Eine ziemlich üppige, aufgemotzte Fünfzigjährige mit dem hungrigen Blick eines Wolfes hatte ihm unmissverständlich zugelächelt.
– Diese Säue sind eine ideale Beute, hatte Mastino einmal zu ihm gesagt. Die Männer heiraten sie, um sie herzuzeigen, aber dann schaffen sie es nicht, mit ihnen mitzuhalten, wenn du weißt, was ich meine … aber nur in der Theorie, ha! Man muss immer auf der Hut sein. Manche sind absolut tabu. Wie zum Beispiel Alissa. Bei anderen hängt es vom Augenblick ab.
– Welchem Augenblick?
– Von der augenblicklichen Wertschätzung des Kommandanten. Wenn einer ganz oben ist, ist seine Frau tabu. Es könnte Getratsche geben, Erpressungen usw. Wenn der Gatte jedoch in Ungnade gefallen ist, nur zu!
Auch in dieser Hinsicht herrschte also eine fest gefügte Hierarchie. Marco hatte es nie auf Macht abgesehen. Er war keiner von der Sorte Mastinos. Aber er hatte eine Vorliebe für Ordnung und klare Ideen. Wir hier und sie dort. Ohne Kompromisse. Was die Mittel anbelangte, wurden sie vom Zweck geheiligt.
Er hatte gerade mit dieser Evelina zu flirten begonnen, einer Senatorengattin mit elegantem Äußeren und etwas weggetretenem Blick, und er fragte sich gerade, ob ihr Gatte Mastinos Einteilung zufolge „oben“ oder „unten“ war, als Alissa ihn entführte.
– Entschuldige, ich brauche einen Vorwand, um mich vor einem hartnäckigen Verehrer in Sicherheit zu bringen.
– Aus Ihrem Mund klingt sogar „Vorwand“ faszinierend.
– Hast du nicht bemerkt, dass ich dich bereits duze? Dort, wo ich herkomme, beruht das Du-Wort auf Gegenseitigkeit.
– Signora … Alissa …
Sie waren auf der Terrasse gelandet. Eine kleine, von Bougainvilleas überwachsene Mauer trennte sie von einem Grüppchen Raucher, die gerade das letzte Rettungspaket für die Banken diskutierten. Alissa trug ein weißes Minikleid von Isabel Marant und silberne Ballerinas. Und sie kam ihm gefährlich nahe.
– Was hast du gedacht, als ich dir sagte, dass ich als Hure gearbeitet habe?
– Ich habe dir nicht geglaubt.
– Und wenn ich dir sagen würde, dass ich mit dir schlafen möchte?
– Würde ich dir nicht glauben.
– Sehr gut. Glaub mir niemals, was auch immer ich sage. Ich will nicht mit dir schlafen.
– Signora …
– Du musst sagen: Ich glaub es nicht!
– Ich glaub es nicht.
– Erstes Stockwerk. Linker Gang, erste Tür rechts. In fünf Minuten. Und vergiss nicht den Champagner!
5.
Lupo kam mitten in der Nacht ins Büro zurück, erschöpft vom x-ten, ergebnislosen Gespräch. Der
Weitere Kostenlose Bücher