Zeit der Wut
Fußtritte verpasst. Es war Sonntag, Verona spielte gegen Livorno, die schwarze Kurve gegen die rote Kurve, da musste er unbedingt dabei sein. Zum ersten Mal hatte er sich aufgelehnt, hatte die Schläge erwidert, und er sah noch immer die Verwunderung im Blick seines Stiefvaters, als er ihm einen Handkantenschlag auf den Hals und einen Tritt in die Eier verpasst hatte. Er war gerade mal zwölf. An diesem Sonntag verlor Hellas Verona zwei zu eins, und seine Mutter starb, während er sich mit den Roten hinter Bentegodi prügelte. Die Angst hatte die WUT ausgelöst. Und jetzt hatte Marco Angst.
4.
Scheiße! Scheiße! Scheiße! Wir haben dir sogar ein rotes Begräbnis bereitet! Scheiße, was für eine abgefahrene Geschichte! Das ist ja wie in
Mattia Pascal!
– Der ist aber freiwillig verschwunden. Ich nicht.
– Trotzdem ist es eine abgefahrene Geschichte.
– Ja, aber niemand darf davon erfahren.
– Nicht einmal Corallina?
– Wer ist das?
– Meine Freundin. Ich bin jetzt mit ihr zusammen.
– Niemand. Eigentlich nicht einmal du. Wenn ich dich nicht bräuchte, würde ich dich da raushalten. Glaub mir, diese Leute spaßen nicht.
Lupo nahm die Kopfhörer ab und warf Daria einen genervten Blick zu. Sie zuckte mit den Achseln. Seit einer Stunde nun unterhielten sich die beiden Freunde in der Baracke in Palidoro. Eine Stunde lang Joints und skurrile Gespräche. Aber von der abgefahrenen Geschichte hatte er noch nichts preisgegeben. Auch die Jungs, die sich an Bord eines schrottreifen Campingbusses befanden und die Konversation mithilfe von Richtmikrofonen aufnahmen, hatten wohl schon die Nase voll vom Warten. Die Geschwätzigkeit der Revolutionäre, dachte Lupo, ist mit ein Grund, warum Revolutionen immer scheitern. Aufgrund seiner Notlage hatte Guido schließlich Flavio aufgesucht. Damit er freigelassen wurde, hatte Lupo am Morgen von Guidos Flucht seinen ganzen Einfluss bei einem Kollegen vom Drogendezernat geltend machen müssen. Der seinerseits den Ermittlungsrichter davon überzeugte, dass die Entlassung des jungen Haschischdealers unter Umständen zu interessanten Untersuchungsergebnissen führen würde.
– Ich frage mich, was aus diesem Guido geworden wäre, wenn er einen Vater wie dich gehabt hätte, hatte Daria ironisch gesagt.
– Ach, ich hätte schon dafür gesorgt, dass er spurt, da kannst du sicher sein.
– Hast du je darüber nachgedacht? Eine Familie zu gründen, meine ich …
– Bei dem Leben, das ich führe? Niemals. Auch dessen kannst du dir sicher sein.
Ein Anflug von Zweifel, eine kaum unterdrückte Trauer hatten ihn verraten. Aber es war keine Zeit, um Süßholz zu raspeln. Es war Zeit für Aktionen. Guido hatte sich eines komplizierten Hilfsmittels bedient, um Flavio zu treffen. Er hatte zwei kleine Zigeuner angeheuert, von zwei unterschiedlichen Telefonzellen aus zwei verschiedene Nummern anzurufen. Sie hatten Flavio ausgerichtet, dass ihn ein Freund sehen wolle, der vielleicht beschattet werde, und der, sofern er etwas Merkwürdiges bemerkte, sofort umkehren müsse.
– Er spielt Geheimagent, hatte Daria gesagt. In welchem Film er das wohl gesehen hat?
– Unterschätz ihn nicht. Für einen Dilettanten schlägt er sich gar nicht schlecht, hatte Lupo geantwortet.
Das Treffen hatte mitten in einem Labyrinth aus Wohnblocks an der Via Tiburtina stattgefunden. Flavio wurde beinahe ohnmächtig, als er den tot geglaubten Freund auftauchen sah.
– Er hat geschworen, sich niemals wieder einen Joint zu bauen, hatte der Polizist Corradi, der ihn in diesem Augenblick überwachte, prompt berichtet.
– Ich frage mich, woher er das wissen will, hatte sich Daria berechtigterweise gefragt.
– Corradi ist der Sohn von Taubstummen. Lippenlesen aus hundert Metern Entfernung ist ein Klacks für ihn.
Aber die Joints kursierten weiterhin. Flavio hatte rechtzeitig für Nachschub gesorgt, doch sie wussten nicht, wo sie sie rauchen sollten. Flavio hatte zwei oder drei Anrufe gemacht, dann waren sie in einem Schrottlager in Palidoro gelandet. Dieses Lager wurde von einem Typen aus dem Osten verwaltet, einem Moldawier oder Russen, der ganz gewiss keine Aufenthaltsgenehmigung besaß. Die beiden Jungs hatten ihn bezahlt. Der Mann hatte ihnen eine Baracke in der Nähe gezeigt, die von einem halb toten Hund bewacht wurde, und war seiner Wege gegangen. Lupo hatte die Jungs vom Abhördienst versammelt. Und jetzt warteten sie. Sie mussten noch lange warten. Bis Flavio endlich vom THC benebelt war und
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