Zeit der Wut
ihn gerne umgebracht hätten, stellte er keine Gefahr mehr dar. Aber da war noch der andere, der noble Bulle, der Polizist. Sicher sucht er mich, dachte Guido. Und er fragte sich: Was würde ich an seiner Stelle tun? Wo würde ich anfangen? Bei der Wohnung, die er deshalb fürs Erste nicht betreten konnte. Oder bei der Familie? Aber in dieser Hinsicht konnte Guido ganz ruhig sein. Er hatte keine Brüder, Onkel, Cousins in Rom, niemand war in Reichweite. Niemand ist so allein wie ich. Aber wenn der Bulle es an die große Glocke hätte hängen wollen, dass er noch am Leben war, hätte er es wohl schon längst getan. In den Zeitungen fand sich keine Notiz über seine Person. Es bestand zwar die vage Möglichkeit, dass die Nachricht über die abendliche Flucht zu spät rausgegangen war, um in den Morgenzeitungen erwähnt zu werden, aber die halbe Stunde, die Guido in einer Bar verbrachte, wo Tagediebe verkehrten, hatte den letzten Zweifel beseitigt. Im Fernsehen lief ein Tennismatch. Der Nachrichtenticker am unteren Rand des Bildschirms informierte über die aktuellen Geschehnisse. Kein Hinweis auf auferstandene Tote. Der Polizist hatte überhaupt kein Interesse daran, die Karten auf den Tisch zu legen. Er wollte, dass ihn die anderen für tot hielten. Er und die anderen. Sie gehörten auf jeden Fall zwei verschiedenen Staaten an.
„Leute wie Sie glauben, dass der Staat ein Monolith ist“, hatte der Bulle bei einem ihrer Gespräche zu ihm gesagt, „aber das ist ein Irrtum … sie sollten mal über die Worte eines bekannten Rotbrigadisten nachdenken: ‚Wir glaubten, den Staat ins Herz zu treffen, aber wir wussten nicht, dass der Staat kein Herz hat.‘ Im doppelten Sinn: Man weiß nicht, wo das Herz des Staates ist, und der Staat kann, wenn er will, unbarmherzig sein …“
Wie dem auch sei, seine Situation änderte sich nicht. Er war auf der Flucht, untergetaucht und noch dazu tot. Eigentlich wusste er nicht, wo er anfangen sollte. Natürlich hätte er irgendwo ein neues Leben beginnen können. Aber das bedeutete, dass er sich Geld und falsche Dokumente besorgen, Grenzen überschreiten musste, dass er sich vielleicht – wie er in einem Anfall von Romantik, für den er sich augenblicklich genierte, gedacht hatte – einer Gesichtsoperation unterziehen musste. Ironie des Schicksals: Wie sehr wäre ihm jetzt das Geld zupassgekommen, das in der Via delle Tre Madonne versteckt war! Das Problem war nur, wie er an es rankommen sollte. Und ehe er an Flucht denken konnte, war da noch das Problem Rossana. Das Mädchen musste gewarnt werden. Gerettet. So wie sie ihn gerettet hatte, als sie den Abzug gedrückt hatte, weil er dazu nicht imstande gewesen war. Gab es da vielleicht einen Zusammenhang? Rossana hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie über ein weitläufiges Netzwerk verfügte. Wenn er sie gefunden hätte, hätten sie sich vielleicht gemeinsam retten können. Auch das war letzten Endes ein romantischer Gedanke. Aber Guido schämte sich seiner nicht, sondern hegte ihn wie einen geheimen Wunsch: irgendwo neu beginnen, aber mit ihr. Ein neues Leben. Flavio war der einzige, an den er sich wenden konnte, ohne fürchten zu müssen, verraten zu werden. Aber gewiss wusste der Polizist von seiner Existenz. Und zweifellos ließ er ihn überwachen, beschatten, abhören. Ihn direkt zu kontaktieren, war gewiss keine gute Idee. Und im Argentovivo, vielleicht sogar mitten in einer Versammlung, konnte er auch nicht auftauchen. Es war ein aussichtsloses Dilemma. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Wie lange konnte er mit fünfzig Euro in der Tasche überleben? Es blieb ihm nur eines übrig: Es riskieren.
3.
Alissa war gerade weggegangen, im Bademantel. Marco war im Bett geblieben. Verwirrt. Befriedigt. Nackt. Frustriert. Das Ganze hatte nicht länger als eine Viertelstunde gedauert. Sie war zärtlich gewesen. Sie hatte offenbar Lust empfunden. Warum wurde dann Marco den Eindruck nicht los, dass er bloß ein Termin in ihrem Kalender zwischen achtzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr fünfundvierzig gewesen war? Dabei war alles perfekt gewesen, hatte den Regeln der Anziehung und des Ehebruchs entsprochen. Und dennoch war alles gleichzeitig schrecklich
scheduled
. Vielleicht war Alissa tatsächlich eine Edelnutte. Vielleicht war sie wirklich sehr, sehr gut im Vortäuschen. Aber warum hatte sie dann auf seinen Anruf reagiert? Warum hatten sie sich geliebt?
Zwei Tage nach dem Vorfall, als er sie schluchzend im Park gefunden hatte, hatte er
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