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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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sie kontaktiert. In Form eines neutralen SMS: „Wie geht’s?“ Nach einer Stunde hatte sie geantwortet. Ebenfalls mit einem SMS: „Nimm Zimmer, Hotel Russie, 18 Uhr, schick mir Nr.“
    Eine halbe Stunde zu früh war er an der Rezeption gewesen. Ohne Gepäck und ohne Reservierung. Das blonde, große, hübsche Mädchen hatte mit dem Direktor gesprochen. Er hatte den Ausweis zücken müssen, um die Perplexität des Mannes zu beseitigen. Er hatte sich ein x-beliebiges Zimmer geben lassen und war mit gemischten Gefühlen eingetreten. Das Mädchen an der Rezeption hatte ihn süffisant angeblickt. Der Direktor hatte ihm mit herablassendem Blick die Schlüssel überreicht. Er war der Diener, der sich heimlich ins Bett der Herrin schlich. Aber gleichzeitig war es elektrisierend, hier zu sein.
    „Wir sind Bosse, hatte Mastino einmal zu ihm gesagt, „über uns ist nur der Kommandant, der wie der allmächtige Vater ist, und unter ihm die ganze verschissene Menschheit.“
    Ach, ja. Der Kommandant. Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass er seine Frau gevögelt hatte? Aber war sie überhaupt seine Frau? Und würden sie überhaupt vögeln? Er hatte lange gewartet, er hatte den dringenden Wunsch empfunden sie anzurufen, hatte sich aber beherrscht. Durch das Fenster der Suite sah er den Pincio, der von einer blassen Sonne beschienen wurde. Alissa war beinahe eine Stunde zu spät gekommen. Sie hatte nasse Haare und trug einen Bademantel, auf den der Name des Hotels gestickt war. Darunter war sie nackt.
    „Es gibt nur ganz wenige Menschen, die mich weinen gesehen haben“, hatte sie schließlich zu ihm gesagt, „und in gewisser Weise habe ich sie alle lieb.“
    War es deshalb passiert? Weil er an diesem Abend entdeckt hatte, dass sie zerbrechlich, verzweifelt war? Hatte er deshalb ein Brandzeichen bekommen? Von nun an gehörst du zu meinem privaten Gefühlsolymp, Junge. Aber bilde dir ja nichts darauf ein. Jetzt sind wir quitt. Damit war es erledigt. In diesem Fall hätte niemand davon erfahren. In diesem Fall wäre es ein Gegengeschäft gewesen. Als ob sie ihn bezahlt hätte. Die WUT begann zu grummeln, unzufrieden. Er musste gehen. Er hatte heute Nachtdienst. Er musste den Dienst antreten. Aber noch hatte er keine Lust, sich aus den Laken zu erheben, die noch nach ihrem Parfum rochen. Er sah das winzige Muttermal auf dem Hals vor sich, die anderen Details, die er bei der Liebe aus der Nähe gesehen hatte, die Art und Weise, wie sie ihre Kehle seinen wilden, vielleicht sogar etwas groben Küssen dargeboten hatte. Er sah den Kommandanten in der Uniform der Zulus. Er kam durch das Fenster und bedrohte ihn mit einem Schlagring. Ich muss es ihm sagen. Niemand darf es wissen. Ich muss es Daria sagen. Er sah sie vor sich, an seinem Krankenbett, in dem Krankenhaus, in dem sie ihm das Leben zurückgegeben hatte. Sie sagte zu ihm: Ich habe dich mit dieser außerirdischen Frau gesehen. Genauso sagte sie: außerirdisch. Sie weinte. So wie Alissa geweint hatte. Marco hätte sie am liebsten getröstet. Aber sie lag in den Armen eines anderen Mannes. Eines wunderschönen Mannes mit femininen Gesichtszügen. Taxi. Er fuhr aus dem Schlaf hoch. Dunkelheit drang durch das Fenster, der zarte, weiße Vorhang bauschte sich im kalten Wind. Im Traum war auch seine Mutter da gewesen. Aufgedunsen und kahl, wie während der letzten Chemo, kurz vor dem Tod. Er wollte nicht in dieses Krankenhaus gehen, er ekelte sich vor den Alten und Kranken. Der Mann seiner Mutter zwang ihn dazu, er packte ihn am Kragen und schleppte ihn hin. Er wog mehr als hundert Kilo und war immer besoffen, kaum wachte er auf, goss er sich einen Campari Soda ein, und so ging es dann weiter, ein Aperitiv nach dem anderen.
    Marco und sein Stiefvater hatten sich von Anfang an gehasst. Als seine Mutter und er ein Paar wurden, war Marco drei Jahre alt und hatte seinen echten Vater nie kennengelernt. Roberto schlug ihn immer, wenn er sich besoff, also fast jeden Tag. Vielleicht hatten genau diese systematischen Schläge die WUT ausgelöst. Marco träumte davon, ihn zu Brei zu schlagen, aber er hatte Angst vor ihm und er liebte seine Mutter. Immer wenn er sich mit Fans der feindlichen Mannschaft oder mit der Polizei prügelte, sah er Robertos Gesicht vor sich und schlug noch fester zu. Als seine Mutter krank wurde, nahm der Hass auf Roberto noch zu, fast als ob es seine Schuld gewesen wäre. An diesem Vormittag, als er versuchte, sich heimlich hinauszuschleichen, hatte er ihm

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