Zeit des Aufbruchs
spät den Griff; sie drückte nur Kevin, der so treu zu ihr gestanden hatte wie jeder andere ihrer Krieger. Sie spürte nicht die Steine unter ihren Füßen, bemerkte nicht die gelegentliche Hand unter dem Ellbogen, wenn Lujan ihr über kleine Rinnen half. Sie nahm kaum das Kommen und Gehen der Kundschafter wahr, die unaufhörlich die Umgebung nach Feinden absuchten. Sie dachte nur an die Schande ihres eigenen, falschen Stolzes, und sie fragte sich immer wieder, was sie Arakasi sagen sollte.
Der Mond verschwand. Die Dunkelheit unter den Bäumen entsprach der in Maras Herz, als sie wie betäubt weiterschritt, während sie sich schmerzhafte Selbstvorwürfe machte, bis sie die Grenze ihres Besitzes erreichten.
Eine andere Patrouille erwartete sie hier, bewaffnet und mit Fackeln in den Händen. Mara war so müde, daß sie im ersten Augenblick nicht die Besonderheit einer zusätzlichen Kompanie erkannte. Lujan sprach mit dem Befehlshaber, und erst, als sie Ayakis Namen hörte, überfielen sie Kälte und Furcht.
Sie verließ ihren Platz an Kevins Trage und eilte zu ihrem Kommandeur. »Was ist mit meinem Sohn?«
Lujan legte seine Hände fest auf ihre Schultern. »Er lebt, Mylady«
Diese Versicherung nahm nicht die Schärfe aus Maras Drängen. Selbst im unruhig flackernden Licht der Fackeln zeigte das Gesicht des Patrouillenführers große Anspannung. Mara fürchtete erschrocken, daß das Desaster möglicherweise nicht auf das Tal beschränkt war, und fragte: »Hat es einen Angriff auf mein Haus gegeben?«
»Mylady, ein Attentäter konnte eindringen.« Der Patrouillenführer verbeugte sich steif. Er hatte von Keyoke gelernt, sich präzise auszudrücken, und so überbrachte er die Neuigkeiten wie einen Kampfbericht. »Ayaki erlitt nur eine leichte Verletzung. Zwei Ammen starben, und Nacoya, die Erste Beraterin, wurde bei der Verteidigung des Kindes getötet. Das Herrenhaus ist gründlich durchsucht worden, doch es fanden sich keine Anzeichen weiterer Feinde. Der Attentäter schlich sich offensichtlich allein ein. Keyoke verstärkte alle Patrouillen an den Grenzen und sandte uns, Eure Eskorte zu unterstützen.«
Doch Mara hörte nichts mehr von den Einzelheiten, nur daß Ayaki Schmerzen gelitten hatte und Nacoya, die für sie seit der Kindheit wie eine Mutter gewesen war, gestorben war. Ihre Knie wurden weich, und ihre Gedanken waren wie gelähmt. Sie spürte den Arm nicht, mit dem Lujan sie unter dem Ellenbogen stützte. Sie hörte die Worte, die ihr Kommandeur zu dem Patrouillenführer sprach, aber sie verstand sie nicht.
Nacoya war tot, Ayaki verletzt. Sie brauchte Kevins Arme, den Trost seiner Liebe in diesem Alptraum; doch er lag bandagiert auf einer Trage, bewußtlos von einem Heilmittel.
Mara stolperte weiter vorwärts. Die Nacht roch nach bitterer Verzweiflung. Unsichtbare Gefahren schienen in der Dunkelheit zu lauern, und selbst die Straße unter ihrem eigenen Gebetstor wirkte plötzlich bedrohlich.
»Ich muß nach Hause«, sagte sie ausdruckslos.
»Lady, wir bringen Euch so schnell wie möglich dorthin.« Lujan rief seiner Kompanie einige Befehle zu, und die Patrouille vereinigte sich mit den Männern, die bereits um die Lady und ihre Verwundeten und Toten standen. Dann marschierten die Krieger auf das Herrenhaus zu, ohne auf den Läufer zu warten, der auf Lujans Befehl mit einer Sänfte zurückkehren sollte.
Mara eilte in einem benommenen Nebel aus Ungläubigkeit weiter. Nacoya war tot; diese Tatsache schien unbegreiflich. Die Lady hatte das Gefühl, laut aufschreien zu müssen. Statt dessen versuchte sie, weiter zu sehen als nur von einem Fuß zum anderen. Sie hörte, wie der Patrouillenführer neben ihr Lujan von den Einzelheiten des Angriffs berichtete, doch in ihrem Kopf erklang nur Nacoyas Stimme, die sie immer und immer wieder schalt, wegen ihrer törichten, eitlen und halsstarrigen Haltung.
Ayaki war verletzt worden.
Ihr Herz schrie vor Wut, Zorn und Trauer darüber, daß ein kleines Kind durch die Machenschaften des Großen Spiels derart bedroht werden konnte. Blasphemische Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum: Kevin hatte recht; aus politischen Gründen Menschen umzubringen war eine unsinnige, grausame Verschwendung. Ihr Sinn für die Ehre der Familie rang mit ihrem Schmerz. Wie knapp nur hatte Tasaio an diesem Tag sein Ziel verfehlt, die Acoma auszulöschen!
Keyokes Weisheit, Nacoyas Mut, der mangelnde Anstand eines Sklaven – nur das hatte zwischen ihrem Haus und der totalen Vernichtung
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